Es gibt Dinge, die sind schlicht wahr: Politiker verdienen keine Unsummen. Sie verdienen nicht schlecht, aber auch nicht übermäßig gut. Aber immerhin besser als der Durchschnitt der Bevölkerung. Ebenso wahr ist es, dass die Grundsicherung in Deutschland Arbeitslosengeld 2 (ALG II) und nicht Hartz IV heißt. Wahr ist, dass der Mindestlohn ursprünglich Teil des Hartz IV-Paketes war und von den DGB-Gewerkschaften heraus verhandelt wurde. Aber wen interessiert schon die Wahrheit?
Genau im Spannungsfeld von Wahrheit und Wirklichkeit liegt der Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft. Während an Universitäten – im Idealfall – auf der Basis logischer Argumente und Fakten die besten Lösungen für gesellschaftliche oder naturwissenschaftliche Probleme gesucht werden, muss man in der Politik stets mit bedenken, was seine eigene Wirklichkeit besitzt.
Die SPD macht dieser Unterschied zornig. In der großen Koalition hat man so viel soziale Politik durchgesetzt, wie seit Jahrzehnten nicht. An dem Eindruck, die SPD hätte ihre soziale Orientierung verloren, hat das herzlich wenig geändert.
Dominanter war im Wahlkampf so manches falsche Gerücht, mach verkürzte Vorstellung, manch grobes Missverstehen in der Öffentlichkeit. Man kann das beklagen. Man kann jammern, oder anerkennen, dass wir nicht in der Uni sind, sondern in der Politik.
Erfolgreich mit der Wirklichkeit in den Köpfen der Wählerinnen und Wähler kann man nur auf eine Weise umgehen: Indem man diese Wirklichkeit anerkennt. Dies bedeutet nicht zwangsläufig eine Kapitulation vor dem falschen Fakt, aber eine de facto Auseinandersetzung mit dem was für viele Menschen eine aktuelle Wahrheit darstellt.
Was die Menschen in den Zeitungen lesen, was sie im Radio hören oder im Fernsehen sehen, ist zumindest für das jeweilige Jetzt die situative Wahrheit – oder schlicht Wirklichkeit – der es sich zu stellen gilt. Und auf Basis dieser Wirklichkeit können eben politische Strategien entwickelt werden. Diese reichen dann von der Befeuerung einer Wirklichkeit, weil sie der eigenen Sache dienlich ist, bis hin zur Strategie ein Thema aus der Öffentlichkeit durch einen neuen Skandal zu drängen.
Entscheidend für die politisch-strategische Kommunikation ist, zu begreifen, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gerade mal für ein einziges Thema zu einem Zeitpunkt reicht. Die Präsentation der ganzen eigenen Vielfalt, der vielen guten und fleißig erarbeiten Inhalte geht immer fehl. Sie geht unter im lauten Geschrei über das eine Ding, über das heute jeder spricht. Morgen mag das Thema schon ein anderes sein.
Jede erfolgreiche Partei surft auf der Agenda oder macht selbst eine Wellte statt den Versuch zu unternehmen, immer sachlich richtig und fundiert zu sprechen. Auch wenn Umfragen sagen, die Deutschen wünschten sich mehr Ehrlichkeit in der Politik – so beweisen doch seit jeher Wahlen, dass die Deutschen nichts weniger wählen als die Ehrlichkeit.
Die Agenda ist nur begrenzt planbar, aber zu einem guten Teil kalkulierbar. Wenn nun also die aktuelle Wirklichkeit der SPD ist, dass sie als unsozial empfunden wird und ihr einziges Kapital wäre, als soziale Kraft wahrgenommen zu werden, dann muss sie sich verändern. Nicht im Detail, nicht im kleinen Inhalt, nicht durch kleine neue Forderungen, sondern fundamental an allen Stellen.
Sie muss sich anders kleiden. So als habe sie nicht im teuersten Modegeschäft am Platz eingekauft. Sie muss anders sprechen, so als habe sie keinen Hörsaal von innen gesehen. Sie muss die sozialen Themen suchen, die Wellen schlagen. Finanzierungsvorbehalt hin oder her. Die Wirklichkeit im Kopf der Menschen verändert man nicht mit kleinen Portionen Wahrheit.
Alle Strategie beginnt mit dem Erfassen der Wirklichkeit. Nichts anderes hat die SPD in Niedersachsen vorgemacht. Die Wahrheit ist, jede und jeder Abgeordnete ist frei. Frei die Fraktion zu wechseln und das Mandat mitzunehmen.
Die Welle, die sich machen ließ, hieß „eine Intrige“. Die Welle, die sich machen ließ, veränderte die Wirklichkeit. Zorn im Bauch und Empörung bei den Wählerinnen und Wählern. „So was macht man nicht!“ – Ach ja? Was in Wahrheit schon oft stattgefunden hatte, war plötzlich eine einmalige Unverfrorenheit.
Wenn die SPD nicht wieder lernt, die Wirklichkeit zu erkennen, wird sie in Wahrheit kein Mandat mehr erhalten.
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