Wie stirbt man eigentlich?
„Über den Tod schweigt man nicht“ steht plötzlich in riesigen Buchstaben auf einer Plakatfläche an meinem Arbeitsweg. Eine gelungene Kampagne des Erzbistums Köln. Mich erinnert das an eine Geschichte:
“Der stirbt auch bald.” Berlin, die Sonne scheint. Der Sommer ist schön. Die Stadt voller Leben. Alles ist super. Ich sitze mit einer Flasche Bier auf einer Parkbank. Neben mir ein guter Freund. Er ist Arzt. Ich schreibe von Beruf. Fliegen schwirren durch die Luft. Sie haben ein kurzes Leben. Wir reden über Deutschland und unsere Gesellschaft. Eine friedliche politische Diskussion wie man sie manchmal unter Freunden führt. Ein Mann geht vorbei und der Freund sagt “der stirbt auch bald”. Ich bin verwirrt.
Der Arzt neben mir hat einen Tumor am Hals entdeckt. Riesengroß ist der und müsste dringend operiert werden. Entweder weiß es der vorbei Gehende nicht oder er will es nicht wahr haben. Auf jeden Fall setzt er sein Leben auf’s Spiel, weil er das Geschwülst ignoriert. “Warum sagst Du ihm das nicht?” – “Was soll ich denn sagen? Hallo, Sie haben Krebs. Im Krankenhaus würde ich mir für so ein Gespräch mindestens 45 Minuten blocken. Jetzt soll ich ihm das mit einer Flasche Bier in der Hand schnell im Park sagen. Und dann?” – Er hat ja Recht. Aber trotzdem ist es komisch, wenn der Tod einfach vorbei geht.
Eben ging es noch um Politik, den Berliner Wahlkampf und ob die Plakate nun schlau sind oder nicht. Plötzlich geht es ums Sterben. Ich bin irritiert.
Ich habe im Grunde noch nie über das Sterben nachgedacht. Über’s tot sein schon. Weil es so eine doofe Vorstellung ist, nicht mehr da zu sein. Weil es eine noch doofere Vorstellung ist, dass man die eigene Beerdigung nicht mit bekommt. Was die dann sagen, wird man nie erfahren. Wie unangenehm! – Aber das Sterben. Keine Ahnung wie das geht. “Weißt Du wie man stirbt? Was da dazu gehört?” – Ich weiß nicht, welche Antwort er hören will. Ich bin Germanist. Aber ich habe auch schon mal eine Doku über unseren Körper gesehen. Das mit den Zeichentrickfiguren. Es war einmal unserer Körper. Ich fand’s toll. Also sage ich “Hirntod und Organversagen – oder?” – “Nein, ich meine, wie das geht.”
Wusstet ihr, dass fast niemand einfach die Augen zu macht und lächelt? Ich wusste das bis Gestern nicht. Menschen reden oft wirres Zeug und zucken bevor sie sterben. Blöd, wenn man das nicht weiß und damit konfrontiert wird, wenn man zum ersten Mal jemanden beim Sterben begleitet. In dem Moment überfordert das komplett. Warum weiß ich das eigentlich nicht?
Vom Sieg zur Niederlage
Über Geburten weiß ich relativ viel. Bei einer dabei war ich noch nie. Ich habe eine Vorstellung von Gebärstationen, weiß etwas über Brutkästen, Zangen, um den Kopf heraus zu ziehen. Ich weiß, dass der Kopf zuerst kommen muss und dass man den Bauch aufschneiden kann. Ich weiß, dass es Wehen gibt und man pressen muss und auch, dass sich dabei allerlei Körperflüssigkeiten ergießen können. Ich weiß sogar von jedem Wohnort an dem ich jemals lebte, wo die nächste Hebammenpraxis ist. Nur über’s Sterben weiß ich nichts.
“Kam bei Euch im Reliunterricht das Sterben vor?” – Schwierige Frage, das ist so lange her. Ich würde sagen nein und habe gleichzeitig Sorge, dass das nicht stimmen könnte, weil ich weiß, dass mein alter Religionslehrer meine Texte hier häufig mitliest. (Joachim, falls doch, sorry, ich weiß es nicht mehr!) Ich glaube ehrlich gesagt, es ging um Konzepte vom Leben nach dem Tod. Es ging auch um Nahtoderlebnisse und so etwas. Quasi als mögliche Vorausschau in ein anderes Leben. Aber wie man stirbt – das weiß ich nicht. Wir wissen alles über die Geburt, weil sie uns wie ein Sieg erscheint. Den Tod haben wir zur letzten große Niederlage verklärt. Das Sterben ist nicht Teil des Lebens, sondern der ultimative Beweis, versagt zu haben. Wie dumm eigentlich. Warum machen wir eine Niederlage daraus, dass wir alles zu Ende bringen, was wir jemals angefangen haben? Weil wir auf’s Sterben nicht klar kommen, muss das Sterben weg. Es muss weg aus unseren Gedanken, es muss weg aus unserem Leben und es muss um jeden Preis verhindert werden. Dabei lässt der Tod sich nicht besiegen. Er kommt ganz unausweichlich für uns alle.
“Wir haben ein ungesundes Verhältnis zum Sterben” – verdammt nochmal, warum habe ich da noch niemals drüber nachgedacht? Ich habe in meinem Leben alle möglichen philosophischen und theologischen Fragen gewendet. Aber das Sterben ist doch so banal, logisch, notwendig, klar, dass es doch unausweichlich als Gedanke vorkommen müsste. Wo hat der Tod sich versteckt? Aus dem Leben entfernt.
Wir haben Wege gefunden, den Tod zu vertreiben. Nicht als Realität, aber als sichtbaren Bestandteil unserer Existenz. Es sterben kaum noch Menschen im Straßenbild. In Autounfällen ja. Es erfrieren auch Nachts im Winter Menschen auf der Straße. Aber Alltag ist das nicht.
Früher war das anders. Da war der Tod ganz selbstverständlich. Kinder starben, Alte starben, Krankheiten rafften immer wieder große Teile der Bevölkerung dahin. Kriege forderten ihre Opfer. Medizin und Frieden haben dafür gesorgt, dass wir heute nicht zu oft zu früh sterben, aber sie haben uns auch vergessen lassen, dass wir um das Sterben nicht umhin kommen. Wir betrügen uns selbst. Wir tun so, als gäbe es den Tod nicht mehr. Selbst diejenigen, die dem Tod nahe gekommen sind, verstecken wir. In Altersheimen und Pflegeeinrichtungen. Möglichst alle kompakt an einem Ort, damit das Altern sich unserem Blickfeld entzieht.
Gesund kann das nicht sein. Denn irgendwann kommt der Tag, an dem jeder von uns dem Sterben begegnen wird. Dem Sterben des anderen oder dem eigenen Sterben. Wir nehmen immer daran teil. Und keiner von uns weiß, wie das geht. Das finde ich gruseliger als die Vorstellung, tot zu sein. Weißt Du wie man stirbt?