Lüge & Demokratie
„Lügenpresse“ ist ein starkes Wort. Es hat eine Geschichte. Wann immer es auftaucht, entspringt es totalitärem Gedankengut. Es soll die Freiheit der Presse entwerten und den Reflektionsraum in der Öffentlichkeit begrenzen. „Lügenpresse“ zu skandieren verfolgt einen konkreten Zweck. Die eigenen Anhänger sollen von der kritischen Öffentlichkeit entkoppelt werden, damit sie in Zukunft die eigenen Lügen für bare Münze nehmen. In Deutschland ist der Rechten gelungen, was ihr in einer Demokratie nicht gelingen darf. Es gibt abertausende Menschen, die von einer Gegenöffentlichkeit entkoppelt wurden. Sie haben aufgehört, an andere Quellen zu glauben, die nicht der eigenen Meinung entsprechen. Sie haben aufgehört, die Dinge aus multiplen Perspektiven zu betrachten. – Nicht zuletzt haben sie aufhört daran zu glauben, dass ALLE Politiker sie für dumm verkaufen. Sie glauben, dass die Demokraten sie für dumm verkaufen und die radikalen nur die Wahrheit sprechen. Das ist das Problem.
Eine Demokratie ist gesund, wenn die Bevölkerung den Eindruck hat, von den Politikerinnen und Politikern jedweder Couleur hinters Licht geführt zu werden. Ein bisschen Dehnung oder Verkürzung eines Sachverhaltes ist Teil des politischen Widerstreits. Die Entscheidung darüber auf welche Themen man aufspringt und welche man ignoriert, hat Einfluss auf das Weltbild das man prägt. Da in einer Demokratie Welt- und Menschenbilder miteinander konkurrieren ist dieser Prozess produktiv. Das Dehnen und Verkürzen von Wahrheit unterscheidet sich dabei strukturell von der Lüge. Beim Dehnen und Verkürzen entscheidet man nur auf welche sachlich richtigen Fakten man zurück greift, man entscheidet welche Statistik man zitiert und welche man ignoriert, aber man fälscht keine Fakten. Die Lüge – und das ist zentral für die Demokratie – wird nämlich von den Medien entdeckt, entlarvt und wird für den Politiker, der sie geäußert hat, zum Problem. Man muss sich entschuldigen oder gar zurück treten. In einer Demokratie ist die Lüge stets die Frucht vom verbotenen Baum.
Zuletzt erlebte das ein junger Politiker der Linkspartei. Nach aktuellem Ermittlungsstand täuschte er einen rechtsradikalen Messerangriff auf sich nur vor. Die Medien berichteten darüber und sollte sich der Verdacht erhärten, dann ist er raus aus dem politischen Geschäft. Wer lügt, muss gehen.
Doch ein neuer Typus des Politikers macht sich breit in den Demokratien der Welt. Es ist der Typus des schlicht dreist vor sich hin lügenden Politikers. Er dehnt nicht und verkürzt nicht, sondern sagt schlicht wissentlich und willentlich grob Falsches. Neu daran ist nicht, dass in der Politik auch mal gelogen wird, neu ist, dass es die eigenen Anhängerinnen und Anhänger nicht interessiert, wenn dies entdeckt wird. Sei dies nun bei Donald Trump, der im Wochenrhythmus Unwahrheiten verbreitet oder bei manchem in der AfD, der Vergewaltigungen erfindet, wie zuletzt in Minden. Die Anhänger reagieren nicht mehr beschämt, sondern unterstützen offensiv die Lüge. Denn diese klar nachgewiesene Lüge wird nicht mehr als schlimm empfunden, weil sie nicht dazu dient selbst Wahrheit zu sein, sondern eine scheinbar unterdrückte Wahrheit zu illustrieren. Die Lüge ist damit ein Mittel zur Bekämpfung der viel größeren Lüge in den Köpfen dieser Menschen.
Ein solch verqueres Verhältnis zu lügenden Menschen hat Voraussetzungen, die in den letzten Jahren in Deutschland entstanden sind und zum Teil auch aktiv geschaffen wurden. Die erste Voraussetzung ist, dass Menschen nur noch zu gleich lautenden Informationen Zugang haben. Sie müssen den Reflektionsraum der Öffentlichkeit verlassen und ihren Horizont begrenzen, sonst verfallen sie nicht der Lüge. Genau das passiert durch den Relevanzverlust der Presse. Zunehmend weniger Menschen lesen Zeitung. Ihr Medienkonsum wird selektiv. Dramatisch auf die Spitze treibt dies Facebook. Denn man besucht nicht mehr die Website einer Zeitung oder Zeitschrift und begegnet dort auch anderen Artikeln, die nicht dem eigenen Geschmack entsprechen, sondern man bekommt Artikel nur noch im eigenen News-Stream mit. Dieser ist jedoch hochgradig selektiv. Wir erhalten immer nur sich selbst verstärkende Informationen. „Ähnliche Artikel“ bekommen wir beständig angeboten – niemals „die gegenteilige Meinung“. Je radikaler die eigene Position, desto wahrscheinlicher wird es, dass mir der hinter Facebook liegende Algorithmus zusammen mit meinen Freunden nur noch extreme Quellen zuspielt. Mein Blick auf die alternative Sicht der Dinge wird als Nutzer verstellt. So verdichtet sich mehr und mehr ein Weltbild, das zur subjektiven Wahrheit wird. Trifft man dann zufällig auf echte, recherchierte, gut geschriebene Presse, dann entdeckt man dort nichts von dem, was man sonst als „Wahrheit“ liest. Subjektiv kommt man da schnell zu dem Schluss, dass dort etwas verschwiegen wird. Ein Gefühl des betrogen Werdens macht sich breit.
„Lügenpresse“ skandiert da plötzlich einer und trifft das Empfinden derjenigen, die vor ihm stehen. Denn sie haben ja allesamt die gleichen radikalen Quellen gelesen. Sie alle haben gemeinsam das Empfinden, dass die Wahrheit gänzlich fehlt. Dass das, was da noch als Dehnung und Verkürzung angeboten wird, eine gedehnte und verkürzte Unwahrheit sein muss, weil nicht vom sonst gelesenen die Rede ist. Im Begriff der „Lügenpresse“ entlädt sich dann die Irritation und wird zur Lösung. Nicht ich bin falsch aufgestellt, weil in diesen Medien von meiner Meinung nicht die Rede ist, sondern die Medien lügen und ich bin einer der wenigen, der das erkennt. So gelingt Selbstaufwertung.
Erinnert Ihr Euch noch daran, wie ihr Eure Facebook-Freunde überprüft habt, um heraus zu finden, wem Pegida gefällt. Erinnert Ihr Euch noch daran, wie ihr all diese Menschen als Freunde gelöscht habt. Damals habt ihr einen großen Beitrag dazu geleistet, dass diesen Menschen noch weniger Gegenmeinung begegnet. Ihr habt sie noch mehr in der verengten Weltsicht isoliert. Nun sind sie abgeschnitten von allen Quellen einer Gegenmeinung. Nun können sie ganz und gar agitiert werden.
Diejenigen, die jetzt „Lügenpresse“ schreiend auf den Straßen stehen empfinden sich in Notwehr gegen ein System, in dem sie betrogen werden. Wann immer ihre politischen Führungsfiguren nachweislich der Lüge überführt werden, dann ist dies nicht mehr problematisch. Denn ihre Lüge dient nur dazu ein System anzugreifen, das ganz und gar aus Lüge besteht.
Will man das auflösen, dann nur durch konsequenten Widerspruch. Widerspruch im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis. Dadurch, dass man immer und immer und immer wieder in die Debatten geht, die einen fassungslos zurück lassen. Dadurch, dass man nicht den Kontakt einstellt zu denen, die näher an rechtes Gedankengut heran rücken, sondern sich im Zweifelsfall auch offensiv streitet und sich gegenseitig Quellen, Links und Artikel um die Ohren haut, die jeweils das Gegenteil behaupten. So entsteht wieder Demokratie und Widerstreit. So wird Wahrheit wieder gedehnt und verkürzt und das ist gut so.
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