Fall Relotius – Die Verwundbarkeit des Journalismus
Der journalistische Hype um den Fall Relotius offenbart die eigentliche Schwäche des Journalismus: Die Idee einer ganzen Branche von sich selbst stets auf der Seite der Kritikerinnen und Kritiker zu stehen.
Viel kann man zur Zeit über den Betrug des preisgekrönten SPIEGEL-Reporters Claas Relotius lesen. Tweets, Artikel und Kommentare mit Kritik zu redaktionsinternen Abläufen, moralische Herablassungen auf das gefallene Wunderkind, Häme oder Lob für den SPIEGEL und seine Aufarbeitung des Betrugs. Was allerdings fehlt, ist eine Reflexion darüber, warum eine ganze Branche in Aufruhr gerät, nur weil das gleiche passiert ist wie es in jeder anderen Branche ganz alltäglich ist. Irgendwo hat irgendwer irgendwen betrogen.
Kritik der Kritiker – die Achillesferse
Der Journalismus hat eine Achillesferse. Eine verwundbare Stelle, die wenn man sie kennt, dazu befähigt das ganze System zu beherrschen. Die allermeisten Journalistinnen und Journalisten sehen sich auf der Seite der Kritikerinnen und Kritiker – oder schlimmer noch, auf der Seite der Guten. Sie haben sich bewusst entschieden nicht in der PR mehr Geld zu verdienen. Sie sind nicht in die Politik gegangen und nicht in die Wirtschaft. Sie arbeiten als Robin Hood für die gute Sache im ständigen Kampf an der Front als Kritikerin und Kritiker der Macht.
Dieses Selbstverständnis macht den Journalismus vom Spieler zum Tennisball, den man mit kräftigen Schlägen über den Platz jagen kann. Es braucht dafür nicht mehr, als eine Kritik an der Kritik. Man muss nur „Lügenpresse“ rufen und schon reagiert der Journalismus mit Artikeln, Rechtfertigungen und Demo-Interviews. Man muss nur „Staatsfunk“ schreien und schon ist die Empörung der öffentlich-rechtlichen Publizistinnen und Publizisten gewiss. Das Schlimme, wann immer die Publizistinnen und Publizisten empört sind, schreiben sie darüber.
Wer sich also auf die Provokation der Journalistinnen und Journalisten versteht, kann sich seiner eigenen Reichweite gewiss sein. Man muss nur wissen, welchen Knopf man bei den Kritikerinnen und Kritikern drücken muss, um ihre Kritik zu gewinnen.
Vor ein paar Monaten gab ich ein Interview im Fernsehen. Die Fragen prasselten im Stakkato auf mich ein. Kaum eine Sekunde, um einen Gedanken zu Ende zu führen. Am Schluss des Interviews, als die Kamera aus war, sagte die Moderatorin nur kurz. „Es tut mir leid, dass wir da jetzt so durch hetzen mussten, aber wir mussten am Ende noch zur AfD kommen, sonst gibt es so viele E-Mails.“ Die Kritiker der Kritiker bestimmen die Fragen.
Eine Einschätzung vieler Journalistinnen und Journalisten zum Fall Relotius ist wahr. Der Fall wird langfristig massiv schaden. Allerdings nicht, weil Claas Relotius den SPIEGEL und seine Leser betrogen hat und die Ränder der Gesellschaft jetzt umso lauter „Lügenpresse“ rufen werden. Sondern weil die Journalistinnen und Journalisten stets auf den „Lügenpresse“-Ruf mit Rechtfertigungen reagieren.
Es reicht in den nächsten Monaten sicherlich, „Relotius“ laut zu sagen und schon werden sich Journalistinnen und Journalisten genötigt fühlen, sich gegen diesen Vorwurf mit Belegen und Quellen zur Wehr zu setzen. Dabei folgen sie dem inneren Impuls, ihre Position des Kritikers zu verteidigen und übersehen, dass sie dem Angreifer mit ihrer Rechtfertigung erst eine Plattform liefern.
Sagen was ist – das Lindenblatt
Groß steht diese Woche ein Zitat von Rudolf Augstein auf dem SPIEGEL-Cover: „Sagen, was ist.“ Ein Satz, der Journalistinnen und Journalisten des SPIEGELS stets ermahnen sollte, das zum Thema zu machen, was ein Thema ist. Ein Satz, der eine Haltung zum Ausdruck bringt und der im Fall Relotius nun allerorten zitiert wird. Allerdings ist genau diese Haltung ist die zweite verwundbare Stelle des Journalismus.
Im Nibelungenlied badet der Held Siegfried im Blut des erschlagenen Drachen. Dieses Bad macht ihn unverwundbar. Eine ihn umgebende Schutzstruktur, die nur eine schwache Stelle hat. Denn während Siegfried ins Bad steigt, fällt ein Lindenblatt auf seine Schulter und verhindert so, dass dort das Blut seine Haut berührt. Siegfried hat einen Schwachpunkt und töten kann ihn nur, wer genau diese Stelle kennt.
Auch der Journalismus hat ein Lindenblatt auf seiner Schulter liegen. Dieses Lindenblatt heißt „Sagen, was ist“. Das Augstein-Zitat kann man auch anders formulieren. Der Systemtheoretiker Luhmann würde sagen, dass das System Journalismus auf Basis der Regel „Nachricht oder keine Nachricht“ operiert. Allerdings lässt sich diese Regel seit rund zehn Jahren hacken.
Denn längst heißt „Sagen, was ist.“ nicht mehr, dass auch etwas wahrhaftig sein muss. Das liegt an einer Änderung der Ordnung der Dinge. Vor nicht allzu langer Zeit entschied an den Schlagzeilen der großen Medien, worüber in Deutschland gesprochen wird. Es wurde gesagt, was ist und dann darüber berichtet, wie besprochen wird, was ist. Heute geht das Verfahren vielfach andersherum.
In Sozialen Netzwerken und unwahrhaftigen Medien entstehen Debatten bar jeder Wahrhaftigkeit. Von Lügen angetrieben, lösen sie eine Welle der Empörung aus, die sich in tausenden Kommentaren und Wutausbrüchen Bahn bricht. Getreu der Regel, „Sagen, was ist.“ beziehungsweise „Nachricht oder keine Nachricht“ ist völlig klar, dass die falsche Information nicht berichtet wird, weil sie keine Nachricht ist. Allerdings ist die Empörung im Netz eine wahre Nachricht. So erschaffen Populisten Berichterstattung über Dinge, die nicht sind, indem sie eine Welle aus Wut erzeugen, die dann wahrhaft da ist und damit auch berichtet wird.
Welche grotesken Züge dies annehmen kann, kann man leicht am Fall „Lisa“ aus dem Jahr 2016 belegen. Russische Staatsmedien hatten berichtet, dass ein russlanddeutsches Mädchen mit Namen Lisa von Flüchtlingen entführt worden sei. Die Wahrheit allerdings war, dass sie schlicht bei einem Freund übernachtete, weil sie sich wegen Schulstress nicht nach Hause traute. Die falsche Information einer Entführung durch Flüchtlinge schaffte es dennoch in alle Medien. Denn tausende Russlanddeutsche begannen aufgehetzt von falscher Information zu demonstrieren und alle Medien berichteten dann über diese Demonstrationen anlässlich einer Entführung getreu dem Motto „Sagen, was ist.“
Zur Ehrenrettung des Journalismus gehört, dass selbstverständlich alle Medien, die über die Demonstrationen zum Fall „Lisa“ berichteten, erwähnten, dass es sich um eine Falschinformation handelt. Allerdings schafften es die Autoren der Falschinformation damit auch in allen anderen Medien kritisiert und damit erwähnt zu werden. Genau diesem Prinzip folgt die Strategie Donald Trumps. Er lügt und ist sich der Kritik seiner Lüge gewiss. Damit schafft er es, dass jeden Tag gesagt wird, was nicht ist.
Die Selbstüberprüfung des Journalismus
Will sich nun nach dem Fall Relotius tatsächlich kritisch selbst überprüfen, sollte die Überprüfung weit über die Frage von Redaktionsstandards und Prüfroutinen hinaus gehen. Ein selbstkritischer Journalismus muss sich auch an seine Achillesferse heranwagen, nicht aushalten zu können, als Kritiker selbst kritisiert zu werden. Ein selbstkritischer Journalismus muss auch sein Lindenblatt verstehen, dass ein Bericht über eine Empörung über etwas, das nicht ist, nur dazu führt, dass am Ende ist, was nicht war.