Alte weiße Männer, die in Armut leben
Der neue Feminismus unserer Zeit spricht viel von „alten weißen Männern“, die an den Schaltstellen der Macht sitzen. Eine Analyse, die schlicht stimmt. Fast überall wo sich Macht und Geld sammeln, finden sich ältere Herren auf den Chefsesseln. Dass sie dort sitzen, ist nicht das Ergebnis ihrer überragenden Kompetenz sondern zu großen Teilen einer Gesellschaftsordnung, die den weißen, heterosexuellen Mann mit so vielen Privilegien ausstattet wie keine andere gesellschaftliche Gruppe sonst.
Die Formel „die Macht liegt in den Händen alter weißer Männer“ ist also korrekt, aber sie trägt dennoch in sich einen gewaltigen Fehlschluss. Denn die Mehrheit aller weißen alten Männer hat nämlich auch kein Geld und keine Macht. Die Mehrzahl aller älteren Männer hat allen Privilegien zum trotz den Weg nicht bis ganz nach oben geschafft. Der Grund dafür ist, dass der Platz an der Spitze in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung begrenzt ist. Er reicht nur für wenige und nicht für viele.
Es gibt ihn, den alten weißen Mann, der in Armut lebt. Er ist ein soziologischer Fakt. Männer mit kleinen Renten, Männer, die krank sind, von Grunsicherung leben, Männer, die einsam wurden, Männer, die Flaschen sammeln, Männer, die verschuldet sind. Haben sie ihren Traum von der gerechteren Gesellschaft verwirkt, nur weil andere in ihrer Alters- und Geschlechtergruppe erfolgreicher Privilegien in Macht und Geld verwandeln konnten? Sind sie besonders gescheiterte Gestalten, weil sie nichts wurden, obwohl sie mehr als andere etwas hätten werden können und haben deshalb keine Unterstützung mehr verdient?
Eine politische Linke ist immer dann erfolgreich, wenn sie all die Verdammten dieser Erde gemeinsam gegen die Mächtigen bündelt. Eine Erkenntnis, die sich in der Arbeiterbewegung überraschend früh durchsetzte. Nur weil die armen Männer mit den armen Frauen zusammenwirkten, wurde ein Ausbrechen aus der Armut möglich. Der Erfolg gab dieser Strategie Recht. Männer und Frauen entkamen millionenfach der absoluten Armut durch Streik und Widerstand. Allerdings war das Tempo unterschiedlich. Die einstmals bitterarmen Männer gewannen im Schnitt mehr und schneller an Macht und Geld als die einstmals bitterarmen Frauen, die gemeinsam mit ihnen gekämpft hatten. Der Grund hierfür war, dass über die ökonomische Armut hinaus Frauen auch noch konfrontiert waren mit einer rechtlichen, erzieherischen, häufig gewaltsamen und politischen Begrenzung ihres Aufstiegs. Sie mussten diese Barrieren noch weitere Jahrzehnte lang Stück für Stück aus dem Weg räumen und müssen es noch immer tun.
In dieser Ungleichzeitigkeit im Selbstbefreiungstempo liegt der heutige Konflikt um den „alten weißen Mann“ begründet. Die Gesamtgruppe aller Männer zusammengenommen hat in allen Alterskohorten und in allen Schichten mehr Geld als die Frauen im direkten Vergleich der gleichen Alterskohorte und sozialen Schicht. Dennoch, es bleibt der Fakt: Nicht alle Männer sind befreit vom Elend.
Was macht man nun geschickterweise daraus, wenn man wirklich Erfolg haben will gegen die geballte Macht des Kapitals? – Man spaltet nicht die Bewegung, sondern man eint sie. Einen in dem Sinne, dass man für alle, die wenig haben, mehr einfordert. Indem man auch armen alten weißen Männern eine Perspektive gibt, wie sie in der neuen emanzipatorischen Bewegung einen Gewinn haben können. Allerdings – und das wird die Herausforderung sein, muss diese Bewegung dieses Mal so gestaltet werden, dass Frauen schneller gewinnen als die Männer, um aufzuholen, was bei der ersten Emanzipation andersherum lief.
Wenn sich der Diskurs um den „alten weißen Mann“ weiterhin nur darauf beschränkt, die wenigen Plätze an der Spitze gerechter zwischen sozialen Gruppen verteilen zu wollen, ohne die Frage zu stellen, wie die Gesamtheit der Gesellschaft an Wohlstand gewinnen kann, wird diese emanzipatorische Bewegung nichts erreichen außer gesellschaftlicher Spaltung. Sie wird nicht zu mehr Repräsentation, nicht zu mehr Wohlstand führen, sondern nur dazu, dass 6 von 100 Plätzen an der Spitze gerechter zwischen den Geschlechtern verteilt sind, während 94 Frauen und Männer von 100 weiterhin zu wenig haben.
Schaut man also genau auf die Erzählung vom alten weißen Mann und seinen Privilegien, dann fällt schnell auf, welcher Gedanke sich hier eingeschlichen hat. Der neoliberale Gedanke davon, dass ein jeder und eine jede sich nur anzustrengen braucht und er oder sie wird schon gewiss gewinnen. Denn was ist es anderes zu sagen, dass alle Männer ihre Chance hatten, weil sie von Geburt an privilegiert waren, wenn doch die überwiegende Mehrheit unter ihnen gar keinen Weg an die Spitze finden konnte, weil die Spitze schlicht zu klein ist.
Was können wir also mit dem Repräsentationsdiskurs heutiger Form anderes erreichen als dass die Mehrheit der Frauen, Transpersonen, Intersexuellen, der Menschen mit Migrationsgeschichte und all die anderen Gruppen, die heute schlechter gestellt sind, am Ende zum allergrößten Teil erfolglos bleiben werden. Erfolglos nämlich, weil wir die zentrale Frage zu häufig ausklammern im Repräsentationsdiskurs: Wie können alle in einer Gesellschaft gewinnen und nicht nur wenige. Alle diskriminierten Gruppen und auch alle alten weißen Männer.