Reformationsrede von Erik Flügge: Es sterbe das Zitat. Es lebe die Reformation.
Reformationsrede von Erik Flügge am 500. Reformationstag in Gießen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
heute ist ein Festtag. 500 Jahre Reformation. 500 Jahre Gott-Mensch-Beziehung in Freiheit. 500 Jahre Protestantismus. Vielen Dank, dass ich das heute mit Ihnen feiern darf!
Wir feiern ein Fest. Auch ich als Katholik. Ich bin ein glühender Freund der Reformation. Aber ich möchte dennoch nichts „Nettes“ über die Reformation sagen. Nicht, weil ich ein beleidigter Katholik bin, sondern weil etwas „Nettes“ zu sagen über die wuchtige Kraft, die Welt erschütternde Gewalt, die unfassbar denkerische Meisterleistung der Reformation mir falsch vorkäme.
Die Reformation ist radikal. Sie ist zornig, sie tobt, wütet, ist unversöhnlich, arrogant, besserwisserisch, spaltend, befreiend, intellektuell, hassend, versöhnend und erhebend. Sie ist meisterhaft und kleingeistig. Sie bringt Freiheit und Vernichtung. Sie stiftet Gemeinschaft und pervertiert sich in Abgrenzung. Sie ist voller Glaube und voller Verachtung. Demütig und übermütig zugleich.
Die Reformation ist mutig und damit zugleich Gründerin und Gegenbild des Protestantismus von heute.
Die Reformation muss man aushalten können. Luther kann man nicht feiern, ohne ihn auch zu ertragen. Luther ist nicht nett. Er ist nicht belanglos oder beliebig. Er ist selbstherrlich, mediengeil, zutiefst gläubig, biblisch-fundamentalistisch, philosophisch, egozentrisch und selbstbewusst. – Allesamt Eigenschaften, die dem Menschenbild von vor 500 Jahren so existenziell entgegen stehen, dass man kaum zu erklären vermag, wie Luther sich aus seiner Sozialisation als nichtswürdiger Diener zum selbstbewussten Menschen überhaupt erheben konnte.
Luther ist wie Klaus Kinsky. Ein brutaler, beleidigender und großartiger Redner. Ein Virtuose ohne Rücksicht. Künstler und Provokateur. Ein bedingungsloser Anhänger der Wahrheit. Kompromisslos und selbstverliebt.
Seit einem Jahr lese und höre ich diese Reformationsreden. Sie frustrieren mich fast immer. Sie widern mich zuweilen an. Es sind diese herumeiernden Reden über das bedeutsam-Gemeinsame der Reformation. Reden in denen, man sich nicht traut, einen starken Gedanken zu formulieren. Es sollen „alle mitgenommen werden“. Das Wohlfühl-Reformations-Gedenken klingt wie Grabesreden auf den jähzornigen Verwandten, der nach dem Tode zum netten Onkel von nebenan verklärt wird.
Dieses Gedenken liebt Luther nicht, es hasst ihn nicht. Manchmal – ja manchmal glaube ich fast, dass es Luther zum Heiligen verklärt. Mit Luther-Socken und Luther-Figuren, Luther-Tinte, Luther-Cappucino-Formen und Luther-Nudeln.
Die Reformation darf man nicht lieblich-sanft verklären. Sie ist der Vorschlaghammer, der das Haus zertrümmert. Gleichzeitig ist Luther ein Poet, der mit unbegreiflicher Liebe die Sprache zu einem Kunstwerk spinnt.
Er liebt. Luther liebt so sehr, dass er erst die Bibel erkennt, bevor er sie zu fassen versucht. Luther gelingt das Meisterstück, die Heilige Schrift in deutscher Sprache einzufangen, ohne sie zu fesseln.
Luther möchte man umarmen. Zärtlich und voller Glücksgefühl, bis er in Zorn gerät und so sehr wütet, dass man sich vor ihm wie ein Kind unter dem Tisch verkriecht.
Aber wenn Luther eines nie sein wollte, dann Heiliger. Luther wollte Mensch sein. Ganz und gar. Liebend, schlemmend, fürchtend, hoffend, betend und zornend. Arrogant genug, um tausende Portraits von sich zu verbreiten, aber keine kühl-distanzierte Heiligen-Ikone. Luther war Mensch. Nur Mensch. Nichts mehr. Das dafür ganz.
Ein Beispiel, dem man ohne göttliche Intervention folgen kann. Ein Beispiel dafür, was aus einem Menschen werden kann, wenn er sich selbst die Freiheit schenkt.
Luther traut sich selbst zu, etwas Neues zu sagen.
Es treibt mich in den Wahnsinn, von protestantischen Rednern pausenlos mit Zitaten eingelullt zu werden. Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin, Erasmus, die Bibel, das Feigenblatt Bonhoeffer, das einem erspart der harten Wahrheit ins Gesicht zu blicken und niemals Müntzer – Müntzer, das wäre zu viel verlangt.
Kaum ein Satz ohne Zitat, das sich nicht auf die Denker der Vergangenheit beruft. Kein Gedanke, der nicht durch mindestens eine Belegstelle abgesichert wurde. – Man könnte ja ertappt werden, selbst gedacht zu haben.
Auch die Reformatoren zitieren. Sie zitieren um ihr Leben. Aber die Reformation ist kein Zitat. Sie ist bahnbrechend neu gedacht.
Ohne Bibelzitate droht den Reformatoren allesamt der Scheiterhaufen. Ohne Zitate droht ihnen die Haft. Ohne Zitate droht der Tod.
Nur welcher Bedrohung fühlen sich die Reformationsredner heute ausgesetzt, dass sie sich hinter Zitaten verstecken? – Hinter Zitaten von Menschen, die vor 500 oder im Falle Bonhoeffers vor 70 Jahren gewagt haben, über das Zitat hinaus zu gehen: Selbst als Ich zu denken.
Ich – das Wort, das wir in der Kirche so ungerne nutzen. Ich statt dem unbestimmten Wir. Das Ich entsteht in der Reformation. Der Mensch erhebt sich als Souverän seines Glaubens aus der Unterjochung durch Priester und Päpste.
ICH – welche unendliche Arroganz war jenes laute „ich und Gott“ in Zeiten, da man sich völlig vor denen unterwerfen musste, die für sich in Anspruch nahmen, die Schlüssel zum Himmel in Händen zu halten.
Es braucht dieses sich erhebende ich, um mit der tradierten angeblichen Wahrheit zu brechen. Luther – das ist sein großes Verdienst – entfesselt sich. Er befreit sich von der ewigen Selbstmarginalisierung im Angesicht der jahrhundertealten Glaubenstradition.
Luther durchbricht die Wand. Nicht mit seinem Thesenanschlag, sondern mit seinem Mut, sich selbst für würdig zu erachten, selbst zu denken, selbst zu Gott zu beten, selbst die Bibel zu übersetzen.
Luther macht sich selbst zum Wort. Im Anfang. Im Anfang der Reformation war das Wort – und dieses Wort heißt ICH. Kein heiliger Luther, sondern ein schlichter, souveräner Mensch.
Ich bin ein souveräner Mensch. Ich bin als Mensch würdig, Dich, Gott, anzusprechen. Das ist Luthers Botschaft. Ich bin.
Ich bin – hierher eingeladen worden, weil ich ein Buch geschrieben habe. Es heißt, „Der Jargon der Betroffenheit – Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“. Ich wurde gebeten, humorvoll, spielerisch das Sprechen der Kirche von heute vorzuführen. Zum Lachen und zum Nachdenken anzuregen. Schließlich dreht sich die Reformation ja um Sprache. Aber bitte nicht zu brutal. Es soll ja noch ein schöner Abend werden.
Was soll ich Ihnen sagen? Wo soll ich anfangen und wo enden? Beginne ich damit, dass just in dieser Woche evangelische Theologiestudierende aus Tübingen einen hochnotpeinlichen Pseudo-Luther-Rap „Der Boss von Wittenberg“ im Stil der 90er heraus gebracht haben? Oder zitiere ich aus einer Weihnachtspredigt von Bischof Dröge die entsetzlich komisch-sinnbefreite Fragenkaskade: „Das Leuchten der Krippe ist noch da. Aber nun stellt sich uns die Frage: Wie spiegelt sich dieses Leuchten bei uns wieder? Ist es zu sehen? Und was spiegelt sich da genau in unserem Gesicht und in unserer Seele? Was macht das Leuchten mit uns?“.
Oder soll ich über die Bibel-auf einem Bierdeckel-Aktion der Landeskirche Hessen und Nassau sprechen? Ein Bierdeckel, zu dem mir immer intuitiv die Zeile einfällt: „Wo zwei oder drei Theologen in meinem Namen kommunizieren, da wird es sicher peinlich“?
Oder soll ich den EKD-Ratsvorsitzenden zum 475. Jahrestag der Einführung der Reformation in Regensburg zu Wort kommen lassen, wenn er über Gott predigt: „Er nimmt uns ab, dass wir es ernst meinen, wenn wir in den Liedern, in den Gebeten, im Hören auf das Wort der Schrift Gottes Nähe suchen, dass wir es ernst meinen mit unserem Glauben, und ich glaube, so wie er den reichen Jüngling angesehen und ihn lieb gewonnen hat, so hat er auch dich und mich angesehen und lieb gewonnen.“
Wissen Sie was, Luther fasst sich kurz. Nicht in der Länge seiner Texte, aber in seinen Sätzen. Lesen Sie die Bibel. Lesen Sie SEINE Heilige Schrift. Die Lutherbibel schafft es, kurze Sätze zu produzieren. Kurze Sätze voller Wucht. Kurze Sätze, die bleiben. Kurze Sätze, zwischen denen schwarze Löcher klaffen ohne Erklärungen und Einschränkungen. Löcher aus Glaube. Luther fasst Sätze kurz. Bedford-Strohm bildet Sätze über fünf Zeilen hinweg.
Wo soll ich beginnen oder enden zwischen Tücherbergen, Kerzen und Gitarren, schlecht gelesenen oder schlecht geschriebenen Texten, Pseudophilosophie und „Ja, Jesus, ja Mann, Jesus hat Dich lieb. Ja Jesus liebt Dich!“-Freikirchen?
Oder soll ich damit beginnen, dass es auch wunderbare Beispiele gibt? Pfarrerinnen und Pfarrer, die mit solcher Leidenschaft das Wort Gottes verkündigen, dass es einen Unterschied macht. Menschen, die aus dem Glauben leben. Evangelische Christen, die jeden Tag die Welt besser machen. Soll ich von Wolfgang erzählen? – Einem evangelikalen Christen, der mir politisch denkbar fremd ist. Von Wolfgang, der sein ganzes Haus leer geräumt hat, damit dort Flüchtlinge wohnen können. Von Wolfgang, mit dem ich mir nicht einig werde, der aber meinen Respekt verdient. Weil er glaubt. Weil er so sehr glaubt, dass es einen Unterschied macht.
Ich erspare es Ihnen und mir. Ich gehe heute nicht ins Detail. Ich möchte nicht über die Sprache der Kirche sprechen, die es heute gibt. Wir alle wissen tief im Herzen, dass sie nicht funktioniert.
Ich möchte mit Ihnen gemeinsam den Blick verändern. Ich würde gerne über eine Vision neuer kirchlicher Sprache sprechen. Eine Vision, die die Reformation ehrt, aber nicht zitiert.
Das Innerste der Reformation ist, die Entstehung des souveränen Ich. Das Ich, das mit Gott in Beziehung steht statt sich in Furcht zu unterwerfen.
Die Schöpfung, nicht das Zitat.
Die Bibel – und ich weiß jetzt schon, dass ich Ihren Widerstand ernte – die Bibel ist auch in der Reformation nur Mittel zum Zweck. Die Reformatoren nutzen die Bibel. Die Bibelübersetzung ist Agitation.
In einer Welt, in der es nur wenige Schriftquellen gibt, schlägt diese Bibel ein wie eine Bombe.
Sie ist Propagandamittel. Man muss nur die Bibel laut vorlesen und die Menschen verstehen, dass die katholische Kirche des 16. Jahrhunderts Gottes Wort zuwider handelt.
In einer Zeit, da alle Menschen gläubig sind, funktioniert dieses Mittel. In einer Zeit, da das Wort Gottes höchste Autorität besitzt, ist diese Bibel relevant. In einer Zeit, da es kaum konkurrierende Quellen in deutscher Sprache gibt, ist die Bibel ein wuchtiges Kommunikationsmittel.
Heute – heute ist die Bibel nichts mehr wert. Sie ist nur noch wahrhaftige und heilige Quelle des Glaubens. Aber sie vorzulesen, zu zitieren und pausenlos in den Mittelpunkt zu rücken, verfehlt die Wirkung.
Heute – ja heute wird durch das Verteilen der Bibel auf der Straße kein Feuer mehr entfacht. Heute entfalten Plakate mit Bibelstellen darauf keine Wirkung mehr.
Heute wird kein TV-Spot der Kirchen besser, wenn darin eine Bibelstelle zitiert wird.
Sola Scriptura – nur die Schrift – war damals alles. Heute ist es nicht mehr genug.
Heute braucht es Menschen, die selbst zum Wort werden. Es braucht mehr denn je die guten Predigerinnen und Prediger, die sich ihres Glaubens gewiss sind und deren Glaube sich an der Bibel messen lässt. Predigerinnen und Prediger, die sich frei von der Angst machen, ohne ein Bibelzitat könnten sie nicht mehr wahrhaftig sein.
Schöpfer statt Zitierer.
Die Reformation ist die Freiheit von Angst.
Mit diesem Gedanken der „Freiheit von Angst“ möchte ich gerne auf die protestantisch-kirchliche Kommunikation von heute schauen. Denn sie ist voller Furcht. Sie ist getrieben von der Furcht vor Kirchenaustritten. Getrieben von der Furcht vor Kritik und Streit in der Gemeinde. Sie ist getrieben von der Furcht vor politisch rechtsgerichteten Mitgliedern in Gemeinden.
Die Effekte dieser Angst sind die gleichen wie bei jeder Angst. Es entsteht eine Spirale des Schweigens. Lieber nicht sagen, was man denkt. Lieber gemeinsame Papiere schreiben. Lieber den großen Konsens suchen, statt sich selbst treu zu bleiben.
Lieber eine Methode anwenden und eine liebliche Geschichte vorlesen, lieber die Bibel einordnen und verbiegen, damit am Ende ein Kamel durchs Nadelöhr und auch ein Reicher in den Himmel kommt. Lieber nur den Bibeltext drucken, denn der wirkt zwar nicht mehr beim Volk, ist aber über jede Kritik erhaben.
Ein Verstecken hinter dem Bibelwort statt Inspirationssuche in der heiligen Schrift.
Das Schweigen durch Zitieren führt zu einem Verlust an Reichweite in der Gesellschaft. Wer immer erst den internen Konsens suchen muss, kann keine kraftvolle Position in der Gesellschaft mehr beziehen. Man wird so mittig-belanglos wie die SPD unter Schulz, die ständig ihre 150jährige Geschichte beschwört oder die CDU unter Merkel, die nur noch das Kanzleramt, aber keine Idee mehr hat. Attackiert von populistischen und agil kommunizierenden Kräften am Rand.
Ich sorge mich um diese Kirche. Heiße sie nun katholisch oder evangelisch, lutherisch oder reformiert. Ich sorge mich um diese Kirche, weil sie nicht mehr mehr sein will als nettes Beiwerk.
Ich sorge mich.
Darum halte ich heute diese Rede. Für die Freiheit des Wortes und die Lust, ganz und gar und kompromisslos Christ zu sein.
Ich glaube noch daran, dass das Christentum wieder Relevanz entfalten kann. Ich glaube noch daran, dass wir nicht im stetigen Fall bleiben müssen. Ich glaube daran, dass einzelne Predigerinnen und Prediger das Ruder herum reißen können, so sie sich denn selbst befreien.
Wissen Sie – ich will sie wieder hören, die Predigt, die den Raum erschüttert. Ich will wieder Pfarrerinnen und Pfarrer hören, die nicht nur die Reformation zitieren, sondern selbst zitierwürdig werden. Ich bin mir sicher, hier in diesem Raum besteht dafür Potential.
Lassen Sie uns der Reformation auf den Grund gehen. Wir müssen verstehen, wie das funktioniert. Wie gelingt es, die Herzen der Menschen in Flammen zu setzen. Wie nehmen wir mit Sprache den Vorschlaghammer in die Hand, um mit donnernden Schlägen das Christentum zurück ins Leben zu bringen.
Der Gegenstand, an dem ich das mit Ihnen betrachten will, ist Christus undenkbar fern. Ich möchte Ihnen zeigen, wie die Reformation funktioniert hat anhand einer Kommunikation, die Sie alle leidvoll mit mir gemeinsam ertragen müssen. Es ist die Kommunikation der AfD.
Es sind die kompromisslos Hassenden, die die Debatte beherrschen. Denken Sie nur an dieses Wahljahr zurück. Wie sehr sich die harten, menschenverachtenden Thesen der Rechtspopulisten in die Köpfe der Menschen brannten.
Das Dramatische: Diese Schurken nutzen die gesamte kommunikative Klaviatur unserer Reformation. Sie nutzen unsere Tradition und wenden sie gegen alles, wofür Christus stand.
Damals wie heute entfaltet der Populismus unter bestimmten Bedingungen gewaltige Kräfte. – Machen wir uns nichts vor – aus Sicht der katholischen Eliten damals war der Protestantismus nichts anderes als Populismus. Polemische, aggressive und die Ordnung in Frage stellende Propaganda, um das Volk aufzuhetzen.
Damals hetzte man gegen den Petersdom in Rom. Wohlwissend, dass der Prunk in Rom, niemandem im heiligen römischen Reich zum Vorteil gereichte. Man prangerte an, dass der Bau mit zu hohen Abgaben und Ablässen bezahlt würde. Es waren diejenigen, die dafür blechten, die sich hinter Luther sammelten.
Die evangelische Kirche in Deutschland hat längst die Seiten gewechselt. Sie ist glühende Anhängerin unserer demokratischen Freiheitsordnung in Deutschland. Sie steht für die weltoffene Politik in unserem Land und Sie alle stellen sich denjenigen entgegen, die diese Politik bedrohen.
Denn die blauen Hetzer erklären unsere weltoffene Politik, die Schutzsuchenden Unterkunft gewährt, zum wertlosen Kunstwerk des Gutmenschentums. Durch Agitation in sozialen Medien zündet der aufgehetzte Mob eine dieser Unterkünfte nach der anderen an. 3.500 Übergriffe auf Geflüchtete allein im Jahr 2016. Das sind beinahe 10 pro Tag.
Auch wenn die Ziele sich entgegen stehen, ist der Modus doch der gleiche. Denn als die Reformatoren theologisch begründeten, warum man die so teuer bezahlte Kunst im Bildersturm von den Wänden reißen konnte, da rannten die Frustrierten los und schritten zur Vernichtungstat.
Wie damals die Protestanten gegen den Petersdom wetterten, so wettern heute die Rechtspopulisten gegen unser Europa. Sie verklären die Friedensunion zum überteuerten Prestigeobjekt.
Wie damals die schöpferische Kunst der Renaissance missbilligt wurde, missbilligen Populisten heute das europäische Friedensprojekt.
Wohin das führt – Sie ahnen es schon – es führt in die Spaltung. Die Spaltung einer Gesellschaft, die wie damals die Kirche kurz vor ihrer Spaltung noch unerschütterlich und völlig geordnet wirkte.
Die Hetzer nutzen die ganze Mechanik der Reformation. Sie nutzen neue Medien besser und strukturierter als die etablierten gesellschaftlichen Kräfte in Parteien, Gewerkschaften und Kirchen. Sie nutzen all das kraftvolle Repertoire zum Aufbrechen einer Ordnung, das in der Reformation erprobt wurde.
Aber sie sind keine Erben der Reformation, sondern ihre Diebe. Denn die Reformation will immer die Freiheit von Angst. Die Rechten schüren die Angst.
Luther nahm den Menschen die Angst vor dem Fegefeuer. Er gab ihnen ein Leben in Freiheit. Die Freiheit zu denken, die Freiheit zu glauben, die Freiheit zu sein.
Diese Freiheit zu glauben, zu denken und zu sein wird angegriffen von Islamfeinden und Gegnern einer liberalen Freiheitsordnung.
Deshalb stehe ich hier. Deshalb habe ich diese Rede zugesagt. Weil ich will, dass Sie wieder wie Reformatoren sprechen. Spaltend, aggressiv, einfach, deutlich, unmissverständlich. Ich will, dass Sie laut sagen, wer nicht in Jesu Nachfolge steht. Wer wider die Botschaft Christi handelt. Erobern Sie die Stimme des Volkes zurück. Für die Freiheit. Überlassen Sie nicht das Erbe der reformatorischen Kommunikation diesem Pack.
Die protestantischen Reformatoren wussten, dass sie radikalisieren müssen. Sie erschufen herabwürdigende Karikaturen, sie beleidigten den Papst und seinen Klerus, wo sie nur konnten. Sie scheuten keinen groben Ausdruck gegen die damals verbrecherischen und verlogenen Eliten. Keine Vereinfachung war ihnen zu flach.
Ich fordere Sie auf, werden Sie wieder reformatorisch. Nicht gegen die Elite, sondern gegen diejenigen, die alle demokratisch-liberalen Kräfte zur Elite verklären, weil wir mit unserer Sprache angreifbar geworden sind. Verabschieden Sie sich von der Elitensprache über fünf Zeilen hinweg. Evangelische Theologie der Freiheit darf nicht komplizierter klingen, als die hasstriefenden Reden der AfD. Nicht komplizierter, aber klüger.
Ich fordere Sie auf, beziehen Sie mit Haut und Haaren Position. Jeden Sonntag. Jeden Montag, Dienstag, Mittwoch. Jeden Tag. Und wenn fünf Leute aufstehen und Ihre Kirche verlassen, soll es Ihnen egal sein. Den Gerechten gehört das Himmelreich!
Predigen Sie! Dort wo es weh tut. Auf der Straße, überall. Kein Rückzug mehr. Auch Christus wurde tot geschlagen, auch die Reformatoren riskierten ihre ganze Existenz. Christ sein heute darf nicht bequem werden. Christus ist niemals Sieger, sondern immer der gekreuzigte. Ihm nachzufolgen heißt, sich ganz und gar auf Gott zu richten – jedem Widerstand zum Trotz.
Die protestantischen Reformatoren nutzen damals alle neuen Medien in ganzer Konsequenz. Unsere Ignoranz gegenüber sich ändernden Kommunikationsgewohnheiten gibt den Populisten überhaupt erst das Potential sich durchzusetzen.
Ich fordere Sie auf, befassen Sie sich mit neuen Medien. Nicht halbherzig. Nicht peinlich. Nicht mit einem Theologen-Rap über Luther auf youtube. Sondern ganz und gar und mit Hilfe von Leuten, die das wirklich können.
Wissen Sie, Wittenberg liegt wahrlich am Arsch der Welt. Die evangelische Kirche in Deutschland hat das 2017 bitterlich erlebt. Keine Hoffnung auf große Besucherzahlen in Wittenberg wurde erfüllt. Das zentrale Reformationsjubiläum wurde zum Flop. Wittenberg ist eben nicht spannend.
Umso spannender, dass ausgerechnet dieses Kaff es schaffte, Weltgeschichte zu schreiben. Die Reformation wäre in Wittenberg zu Ende gegangen, wenn nicht gleichzeitig mit der Reformation eine neue mediale Realität entstanden wäre. Die Reformation wäre in Wittenberg versauert, wenn Luther sich nicht für das Neue geöffnet hätte.
Luther ohne Cranach wäre provinziell geblieben. Cranach, der Kapitalist. Der charakterlose Geschäftemacher, der katholische wie protestantische Propaganda gleichermaßen druckte. Sich Rechte an Luthers Bildern sicherte, um Reibach zu machen, hässliche Papstbeleidigungen ins Bild brachte und Lobhudelschriften auf den Katholizismus druckte. Luther fand den Schlüssel zur Freiheit – aber nur Cranach machte ihn oft genug nach, um alle Gefängnisse aufzuschließen.
Luther hat verstanden, dass man Hilfe braucht, um Reichweite zu erzielen. Und Luther hat verstanden, dass man keine eifrig-gläubigen Helfer braucht, sondern als eifrig-glaubender sich diejenigen zu Hilfe ruft, die wissen, was sie in diesen Medien tun. Jedes Mittel ist der Wahrheit recht!
Ihnen mag das nicht gefallen. Vielleicht sehen Sie es wie Margot Käßmann. Die schrieb dieses Jahr, sie glaube dass die Dauerpräsenz in neuen Medien die Fähigkeit zur Vertraulichkeit zerstöre. Sie schreibt: „Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher finde ich die Veränderung. Heute erzählen Menschen alles über sich. Bei Facebook posten sie unablässig, wo sie sind, wen sie treffen, was sie denken, was sie essen.“
Als ich es las, musste ich herzlich lachen. Ausgerechnet Margot Käßmann verdammt Menschen, die alles über sich preisgeben. Was Margot Käßmann denkt, gibt es übrigens in dem Buch „Engagiert Evangelisch“. Sie schreibt auch gerne, wo sie ist. Zum Beispiel in ihrem Buch „Zu Gast in Amerika.“ Wen sie trifft, erfahren wir in ihrem Begegnungsbuch mit Bedford-Strohm „Die Welt verändern“ und in DER BUNTEN kann man tatsächlich nachlesen, wie genau sich Margot Käßmann ein Sandwich macht.
Wie verlogen ist eine Kritik an einem Stil, den man selbst pflegt, wenn andere für denselben Stil ein anderes Medium nutzen.
Doch in einem hat Margot Käßmann mit ihrem Handeln Recht. Es braucht Menschen wie sie, die sagen, was sie denken, glauben, wen sie treffen und im Zweifel sogar was sie essen. Margot Käßmann beherrscht das Populäre. So viel ist gewiss. Aber sie nutzt wie der gesamte Protestantismus mit großer Leidenschaft die Medien des Gestern. Bücher, Bücher, Bücher und DIE ZEIT. Die Medien der langen Texte. Die Medien, die nur die Oberschicht konsumiert.
Ich möchte dem Protestantismus heute ins Stammbuch schreiben: Werden Sie einfacher. Werden Sie kürzer. Werden Sie Luther.
Werden Sie Luther.
Auch über Luther wissen wir, wie er Feste feierte. Auch über Luther wissen wir wen er traf, was er dachte und wohin er reiste.
Wir kennen Zitate Luthers und wir wissen, woran er glaubte. Wir kennen Luther.
Und weil wir ihn kennen, wissen wir auch: Luther hatte keinen Luther zum Vorbild. Luther hatte Gott.
Sola fide – Nur der Glaube. Das ist Luther. Kein Luther-Gedenken, kein Luther-Lob. Keine Luther-Verehrung. Allein der Glaube an Gott und der Mut sich selbst auf die Bühne zu stellen.
In diesem Saal sitzen mehrere hundert Pfarrerinnen und Pfarrer. Unter Ihnen muss es möglich sein ein paar starke Charismen zu finden. Hier im Saal muss es möglich sein, dass jemand sich entscheidet, sich wie Luther selbst so wichtig zu nehmen, über das Zitat hinaus zu gehen.
Stehen Sie auf und treten Sie selbst auf die Bühne der Geschichte. Eine Selbstbefreiung hin zum eigenen Gedanken, zur eigenen These, zur eigenen Sprache. Ein Bruch mit 500 Jahren Tradition durch schöpferisches neues Denken.
Selbst denken, selbst sprechen und zwar mit solcher Wucht, dass die Medien darüber schreiben. Aggressiv im Ton und einfach in der Sprache und das alles für Christus und für die Freiheit gegen die Angst.
Die Reformation hat auch 500 Jahre nach Luther erst begonnen.
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