Bin ich Schuld an Auschwitz?
Ich bin 29 Jahre alt. Meine Eltern und ich haben nie in einem Krieg gekämpft, mein Großvater schon. Zumindest nach meinem Wissen war keiner meiner Verwandten ein direkter Täter in einem Konzentrationslager. Dennoch, ich stelle die Frage, ob ich Schuld an Auschwitz trage.
Ich will diesen Text schon lange schreiben. Er fällt mir so schwer wie kein anderer zuvor. Nicht, weil ich keine geordneten Gedanken hätte, sondern weil das Schreiben über den Holocaust immer eine Gratwanderung darstellt. In jeder Richtung lauern die Abgründe der Relativierung, der Verharmlosung, der Übertreibung und der Untertreibung. Heute wage ich es dennoch.
Ich frage nach Schuld,
nicht nach Verantwortung.
Ich kenne den Satz: „Schuld empfinde ich keine, aber Verantwortung“. Ich habe ihn oft genug von jungen Menschen gehört. Es ist der bessere Satz. Der schlechtere lautet: „Das ist über 60 Jahre her und ich habe nichts damit zu tun“. Ich kann verstehen, dass viele den Begriff der Verantwortung wählen, denn er macht deutlich, dass man nicht vergessen sollte, aber sich auch nicht selbst für schuldig erklären muss für eine Tat, die man selbst nicht begangen hat. Ich frage ganz bewusst nach der Schuld. Dieser Begriff ist so aggressiv, so existenziell bedrohlich. Obwohl ich lange nach der Befreiung des letzten Konzentrationslagers geboren wurde, werde ich als Deutscher nicht von dieser Schuld freigesprochen.
Von „Sippenhaft für das deutsche Volk“ schreibt mancher wütende Mensch im Internet. Wenn ich es mir recht überlege, dann sollten wir eher über eine globale Schuld der Menschheit sprechen. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Schuldfrage von Auschwitz längst nicht mehr eine deutsche, sie ist eine weltweite geworden.
Auschwitz ist in der Welt.
Der Gedanke von der industriellen
Vernichtung von Menschen ist
unauslöschlich Teil der Menschheit
geworden.
Gedanken können in der Menschheitsgeschichte nicht vernichtet werden. Was erdacht wurde und die kritische Schwelle der Relevanz überschritten hat, kann nicht gelöscht werden. So verhält es sich mit dem Gedanken an die Götter. Selbst wenn die Mehrheit der Menschen nicht mehr an Gott oder Götter glauben sollte, so bleibt das Konzept eines Gottes doch dauerhaft in der Welt und jeder, der nicht an Gott glaubt, verhält sich negativ, aber relativ zum Konzept eines Gottes. Bevor der erste Gott benannt und in seiner Macht definiert wurde, verhielt sich niemand dazu. Gott war nicht Teil der Gedankenwelt von Menschen.
Gleiches gilt für alles im kollektiven Bewusstsein der Menschheit. Würde die Welt sich einigen, dass keine Macht mehr die Atombome besitzen dürfe, so müsste doch stets überwacht und verhindert werden, dass nicht doch jemand versucht, diese Bombe erneut zu bauen. Selbst ohne eine einzige funktionstüchtige Atombombe auf der Welt, selbst wenn jeder Bauplan einer Atombombe vernichtet wäre, ist der Gedanke, dass es diese Bombe geben kann, unauslöschlich. Genau so verhält es sich mit dem Holocaust.
Auschwitz ist in der Welt. Der Gedanke der industriellen Vernichtung von Menschen ist unauslöschlich Teil der Menschheit geworden. Selbst nach der Befreiung aller Konzentrationslager kann dieser Gedanke nicht mehr gebannt werden. Damit ist dieser Gedanke denkbar für jeden geworden. Es braucht keinen pervertierten, neues erschaffenden Geist mehr, um Gaskammern, Hochöfen, Deportationen und Massenvernichtungen zu erdenken. Heute steht dieser Gedanke jedem hassenden Dummen zur Verfügung, denn erdacht und erprobt wurde dieser Horror bereits.
Heute ist die Schuld
größer als 1945.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab es Millionen Schuldige auf der Welt. Menschen, die das System der Gaskammern stützten, diejenigen, die sich aktiv daran beteiligten und diejenigen, die es nicht stark genug bekämpften. Schuldig gemacht hatten sich unfassbar viele. Die meisten davon waren Deutsche. Allerdings war die Schuld auch begrenzt. Sie war begrenzt auf diejenigen, die wussten und diejenigen, die hätten wissen müssen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich die Zahl der potentiell Schuldigen von Millionen auf Milliarden erhöht. Heute gibt es Dank der umfassenden Aufklärung über das unfassbare Unrecht der Nationalsozialisten niemanden mehr, der nicht weiß oder hätte wissen können.
In meiner Generation gibt es eine häufig gestellte Frage. Sie lautet, wie hätte ich damals unter den gleichen Bedingungen gehandelt? Aber ist diese Frage überhaupt relevant? Muss sie nicht eher lauten, ob ich unter den Konditionen von heute ausreichend wehrhaft handle, um ein neues Konzentrationslager zu verhindern?
Heute ist Auschwitz als Konzept in der Welt. Wir müssen wissen, dass das nächste Vernichtungslager erneut am Ende von Entrechtungen und Entmenschlichungen stehen kann. Weil wir das wissen, machen wir uns heute leichter schuldig, als noch die Generation unserer Großeltern. Wir wissen, dass jede unwidersprochene, jede nicht bekämpfte Aufgabe des Prinzips der Menschenwürde den Spielraum für neue Konzentrationslager und Gaskammern bereiten kann. Wer in der heutigen Welt nicht widerspricht, macht sich schuldig.
Die Menschenwürde wird
tagtäglich in Frage gestellt.
Die industrielle Vernichtung von Menschen ist nur in bestimmten Rahmenbedingungen durchsetzbar. Neben vielen anderen Faktoren zählen das Aberkennen der Würde des einzelnen Menschen und das ängstliche Verstummen der Masse vor dem Terror der Täter zu den wohl wichtigsten Bedingungsfaktoren neuen Unrechts.
Unsere Demokratie ist mit dem Grundgesetz angetreten, einer neuen Terrorherrschaft keinen Spielraum zu lassen, um sich zu entfalten. Dennoch, müssen wir uns fragen, ob sich gefährliches Gedankengut nicht längst wieder Handlungsräume erkämpft hat? In unsere Demokratie hat sich ein Gedanke eingeschlichen, dem viel zu wenig widersprochen wird. Einzelne Menschen dürfen für das Wohl der Vielen geopfert werden. Ein Argumentationsmuster, das ganz selbstverständlich bis weit in die Mitte der Gesellschaft in diesen Tagen ständig wiederholt wird.
Diejenigen demokratischen Regierungsvertreter, die zur Zeit die Begrenzung oder Aussetzung universeller Menschenrechte auf Asyl und Schutz fordern, haben keine Vernichtung von Menschen geplant. Sie wollen keine neuen Konzentrationslager und dennoch erschaffen sie eine Gedankenwelt, in der der Opferung des Lebens des Einzelnen zu irgendeinem Zweck ein Raum geschaffen wird. Die Politik an Europas Grenzen bereitet den Weg dafür, dass unsere Gesellschaft akzeptiert, dass es Begründungen geben darf, um Menschen ihr Menschenrecht zu nehmen. So entsteht ein gedanklicher Spielraum, in dem sich das Prinzip, das dieser Politik zu Grunde liegt, ausweiten könnte.
Terror entsteht nicht in einer Momentaufnahme, sondern konstruiert sich durch die stückweise Nutzung kleinster Spielräume und Argumentationsmuster. Dabei ist nicht gesagt, dass ein solcher Angriff auf Demokratie und Freiheit gelingt. Unsere Verfassungsordnung erweist sich als durchaus stabil in der Abwehr totalitärer Tendenzen und dennoch sollten wir alle besonders wachsam sein, wenn sich eine ethische Grundordnung verschiebt. Denn im Zusammentreffen von wirtschaftlicher Destabilität und politischer Schwäche der Demokratie können genau jene kleinen Spielräume, die wir heute zulassen, das Fundament bilden, um erneut Diktatur und in ihrer pervertiertesten Form Vernichtungslager entstehen zu lassen. Genau wie damals in der Weimarer Republik gibt es einen Punkt, an dem ein demokratisches System sich so sehr destabilisiert hat, dass es zusammenbricht.
Im Unterschied zum Ende der Weimarer Republik ist uns allen jedoch gemein, dass wir hätten wissen können, wo ein solcher Prozess enden kann. Wir würden uns also im Falle erneuter Vernichtungslager ungemein stärker schuldig an ihrer Entstehung machen.
Wie schnell das Fundament unserer Freiheit erodieren kann, wenn zu viele wegsehen, zeigt das kleine sachsen-anhaltinische Dorf Tröglitz. Binnen kurzer Zeit schaffte Tröglitz es zweimal in die bundesweiten Schlagzeilen. Das erste Mal mit der Ankündigung des CDU-Ortsbürgermeisters, von seinem Amt zurück zu treten, weil er sich zu sehr von Rechtsradikalen unter Druck gesetzt fühlte; das zweite Mal schon kurz später, als in Tröglitz ein Asylbewerberheim brannte. Beide Ereignisse kommen nicht aus dem Nichts. Sie sind vorläufiger Höhepunkt eines fortschreitenden Angriffes rechtsradikaler Kräfte unter Ausnutzung gesellschaftlicher Stimmungen und Angstgefühle. Liest man die Kommentare und Texte dieser Täter, so taucht dort nationalsozialistischer Terror inklusive der Vernichtungslager als Folklore wieder auf. Auschwitz ist in der Welt und kann nicht zerstört werden. Es weckt zum Glück bei der Mehrheit Entsetzen und leider bei wenigen erschreckende Begeisterung.
Wenn wir nicht widersprechen,
machen wir uns schuldig.
Schuld lädt man heute leichter auf sich. Wir wissen, dass am Ende aus begrenztem Unrecht im Heute das unbegrenzte Unrecht von Morgen stehen kann. Für uns entfällt die Entschuldigung, nicht gewusst zu haben, wohin ein Angriff auf die Menschenwürde führen kann. Damit versammelt sich beständig in uns eine wachsende Schuld, wenn wir in einer Gesellschaft leben, in denen Menschenrechte in Frage gestellt werden oder wir zusehen, wie dies andernorts geschieht. Mit jeder Verschiebung der menschlichen Ordnung zur unmenschlichen sind wir Teil einer kollektiven Schuldanhäufung, weil wir nicht alle Willenskraft und alle Handlungskraft als Einzelne und als Kollektiv aufbringen, um Gesellschaft in die gegenteilige Richtung zu entwickeln.
Wenn ich die Bilder aus Auschwitz sehe, dann berühren sie mich existenziell. Es sind Gefühle von Ekel, Schmerz, Überforderung und Scham. Auschwitz berührt mich nicht allein, weil ich Deutscher bin, sondern auch, weil ich Mensch bin. Teil einer Menschheit, deren Formen des Zusammenlebens das Potential bergen, zum denkbar größten Unrecht zu pervertieren. Ich bin Teil einer Menschheit, in der das Individuum zum Täter in einem System der Täter werden kann.
Damit bin ich zurück bei meiner Ausgangsfrage. Es ist nicht die Frage von Verantwortung, die sich meiner Generation stellt. Es ist die Frage von Schuld: In mir lebt der Gedanke Auschwitz. Er ist Teil von mir und kann sich potentiell Bahn brechen, wenn ich es nicht verwehre.
Als Mensch – nicht nur als Deutscher – kann ich dem Faktum nicht entkommen, dass das Unrecht der Vernichtungslager Teil meines Bewusstseins geworden ist. Auschwitz ist in der Welt und kann nicht vertrieben werden. Auschwitz ist in mir und kann nicht gebannt werden – eine Perspektive, die wir selten formulieren, die sich aber in den Reaktionen der Menschen auf die Begegnung mit diesem Horror spiegelt. Hört man Schülern genau zu, dann beklagen sie, ständig mit dem Nationalsozialismus konfrontiert zu werden. Nach anfänglichem Interesse wollen sie dem Thema ausweichen, sich dem Konzentrationslager entziehen. Wir tendieren zur Flucht, zum Wegsehen, denn in Auschwitz schauen wir in den Abgrund unseres eigenen Selbst.
Schuld als Teil von sich zu begreifen, hat aber auch ein konstruktives Moment. Wer sich selbst als schuldig empfindet, kann Teil einer Wiedergutmachung sein. Nicht nur gegenüber den noch lebenden Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, sondern auch gegenüber der noch kommenden Geschichte. Für mich ist Auschwitz gedanken- und handlungsleitend. Die Zerstörungskraft des Lagers ist Mahnung an mich selbst vor mir selbst. Es zeigt mir, dass in mir dasselbe schlummert wie in jedem Menschen und dass es die bewusste, schuldbewusste Entscheidung und Selbstkontrolle braucht, nicht zum Wiederholungstäter zu werden. Denn erst wenn man sich selbst als Teil eines Gesamtsystems versteht, in dem sich Schuld aus Tausenden von kleinsten Puzzleteilen zusammen setzt, kann man sich selbst als handelndes Individuum kritisch betrachten und verantwortlich seinen Weg gehen. Spricht man sich selbst die Schuld ab, dann verstellt man sich den Blick auf die eigene Verantwortung.