Warum hast du nicht studiert?
Ich lese sie immer wieder. Klagelieder auf die Uni. Zuletzt von Lea Deuber in der Zeit. Sie schreibt „Liebe Uni, dieses Studium hätte ich in 30 Tagen geschafft“ und nennt den Artikel „eine Abrechnung“. Wenn ich ehrlich bin, dann empfinde ich mit der Autorin Mitleid. Nicht über das, was ihr widerfahren ist, sondern über das, was sie sich vorenthalten hat.
Lea Deubers Urteil ist ein hartes, aber treffliches. Wenn sie sagt, sie frage sich, „ob ihr Studium ein Kuhhandel war: Zeit gegen Abschluss“, dann beschreibt sie die Realität sehr vieler Menschen mit denen ich studiert habe. Dieses endlose herum sitzen, das stupide auswendig lernen, dümmliche Referate und alle reden nur von Noten. Ja, es ist furchtbar, aber ihr macht das alles selbst.
Ich habe anders studiert zu Zeiten des Bachelor-Master-Systems. Ich hätte mein Studium niemals in 30 Tagen geschafft. Nicht, weil diese paar putzigen Klausuren und Hausarbeiten nicht problemlos in dieser Zeit zu schaffen gewesen wären. Da bin ich vollkommen d’accord. Sondern, weil mein Studium ein dichtes Gewebe aus Gedankenfetzen hervor gebracht hat, das ich nicht hätte schneller weben wollen.
Der Sinn eines Studiums ist schwer zu beschreiben. Es ist als hätte man ein paar Nadeln und unglaublich viele kurze Stücke Faden und wöbe aus diesen ein Muster. Man verknüpft an mancher Stelle kunstvoll Fäden miteinander und an anderer macht man einen kleinen, brüchigen Knoten. Das Gewebe verheddert sich von Zeit zu Zeit und muss entwirrt werden und es gibt die kurzen Phasen, da konkurrieren die eigenen Muster mit den schönsten Mustern der Vergangenheit. Das Studium gibt kein Muster, das man nachstricken kann. Es fragt zwar allenthalben nach den Mustern der Vergangenheit, aber der Mehrwert liegt eben nicht im referenziellen Denken sondern im kreativen.Wozu zwingt man Studierende, sich mit allerlei Zeugs und Definitionen abzuplagen? Warum springt man von Theorie zu Theorie, ohne sie je zu durchdringen, zu erfassen, zu begreifen? Wenn es darum ginge, das Alte vollumfänglich zu verstehen, ja, dann hätte die Uni versagt. Aber es geht um das Zeigen unterschiedlicher Muster, um den kreativen Geist für neue, eigene Knoten zu begeistern.
Ich werde niemals verstehen können, warum manche Menschen nur referenziell denken und ihren eigenen Gedanken keine Autorität zusprechen. Warum wagen so viele Menschen nicht, selbst zu formulieren, selbst zu schreiben, selbst ein Gebilde zu weben. Warum zeigen sie immer auf die großen Geister der Vergangenheit, als wären diese weniger Mensch gewesen. Warum braucht ein Theologe Augustinus, um zu argumentieren, warum ein Germanist Foucault und ein Politologe Max Weber? All diese Menschen haben großartige Gedanken hervor gebracht, damit wir sie weiter weben, aber doch nicht damit wir darauf stehen bleiben. Jeder dieser Vordenker war arrogant genug, dem eigenen Gedanken etwas zuzutrauen.
Ich erinnere kein einziges Referat, das ich nicht mit Leidenschaft gehalten habe. Nicht für die anderen, sondern für mich, weil ich selbst mit Gedanken spielen wollten. Mancher Dozent fand es furchtbar, andere haben es geliebt. So what? – Ich habe nicht für die studiert. Es gab dieses eine Seminar über linguistische Pragmatik. Die allermeisten haben es gehasst, denn die Dozierenden konnten vieles, nur nicht das Theoriengeflecht in einfachen Worten ausrollen. Gerade dann beginnt doch erst der Spaß! Wenn man selbst die einzelnen Knoten betrachtet, den Linien folgt, Strukturen und Muster erkennt und am Ende die simple Schönheit entwirrt. Aus keinem Seminar habe ich mehr gezogen für meine heutige Arbeit.
Um eines klar zu stellen, ich habe nie viel Zeit an der Uni verbracht. Ich habe in meinem Studium jeden einzelnen Fehltag ausgeschöpft. Zwei Fehlsitzungen pro Kurs und Semester waren für mich essentielle Verschiebemasse, um meinen außeruniversitären Aktivitäten nachzugehen. Ich gehörte nicht zu den Wissenschafts-Zombies, die in der Bibliothek wohnen und keine Perspektive ohne die Universität mehr haben. Ich habe mehr Zeit in Zügen als in Hörsälen verbracht. Immer auf dem Weg zum nächsten Vortrag, zum nächsten Bildungsseminar, zur nächsten Kampagne. Raus aus der Uni in jedem freien Moment – immer mit Gedankenfäden im Gepäck, um sie mit realen Problemen zu verweben.
Es gab diese Momente, da mich Kommilitonen anfeindeten. Es waren Sätze wie „es kann ja nicht jedem so zufliegen, wie dir“. Ich schmunzle immer noch darüber, denn wenn man meine Notentabelle anschaut, dann ist mir nicht viel zugeflogen. Ich habe nur immer die Entscheidung getroffen, was ich lernen und verstehen will und welche Klausur mir egal ist. Ich glaubte nie an eine Abschlussnote, sondern daran, dass man etwas können muss, um einen Job zu bekommen. Selten war der Seminargegenstand mein Kerninteresse. Noch seltener war mein Interesse klausurrelevant. Oft schrieb ich einfach auf, was ich dachte und es war für nichts zu gebrauchen, als es an die Wand zu hängen und es lächelnd zu betrachten.
Ich kann bis heute nicht verstehen, wie man einem guten Gedanken nicht folgen kann, nur weil er gerade der Hausarbeit, der Klausur oder dem Referat nicht dienlich ist. Dem schöpferisch-neuen Gedanken muss Raum gegeben werden. Der neue Gedanke hat immer Priorität. Das entscheidet keine Uni für dich – das tust du selbst.
Mich hat es nie in die Forschung gezogen. Meine Fachartikel und Bücher sind Abfallprodukte von Gedankenkonstruktionen, die ich mir ab und an erspielt habe. Heraus gekommen ist eine durchaus beachtliche Publikationsliste. Sie bedeutet mir nicht viel. Man schreibt das Zeug halt, weil … ich weiß nicht warum, ich tu es eben. Es macht selten Spaß. Ganz anders als dozieren. Ich lehre gerne an der Uni. Es ist meine Leidenschaft. Ich werfe mit Fäden um mich und die allermeisten Studierenden genießen diese Seminare oder aber sie heucheln bei der Seminarevaluation. Beides ist möglich, aber auch dort lehre ich im Kern für mich und fordere ein, dass endlich gedacht wird. Selbst, eigenständig, mutig, frei – so wie die Universität sein will.
Lea Deuber, gibt es eine Hausarbeit, die Du erinnerst? – Die eine, für die du nur sechs Stunden gebraucht hast, ohne zu plagiieren, weil du Fäden aus deinem Gedankengewebe von so weit entfernten Enden so kunstvoll miteinander verwoben hast, dass sich der Korrektor danach bei dir bedankt. Die eine Arbeit, für die eine halbe Stunde in der Bibliothek gereicht hat, weil es so gar nichts gab, was zitierenswert war. Es ist die eine Arbeit, bei dir die Note ganz egal war und dich die 1,0 dann selbst überraschte. Sie überraschte dich nicht, weil du nicht wusstest, dass das, was du geschrieben hast, gut war, sondern weil dir die Note so egal war. Du hättest den Gedanken schlicht auch geschrieben ohne Prüfungsdruck, denn er war schön.
Es tut mir so leid, wenn Menschen enttäuscht auf ihr Studium zurück schauen. Es tut mir leid, weil sie all die Fäden als lose Enden mitgenommen haben. Sie haben kein Kunstwerk im Gepäck, von dem sie für immer zehren und an dem sie weiter weben können. Sie haben schlicht Zeit gegen einen Abschluss getauscht.