SPD-Absturz: Die Mechaniken unserer Zeit
Es ist komplex. Genau das trifft es wohl am besten. Wie immer, wenn man sich in der SPD eine einfache Lösung wünscht, muss man bei genauerer Betrachtung feststellen: Es ist komplex. Dennoch lässt sich das Komplexe in einfache Teile zergliedern.
Einfache Wahrheit 1: Themen allein sind es nicht.
Wahlabende sind immer ein Spiegel des Jetzt. Ganz besonders gilt das für junge Menschen. Als die Rechtspopulisten die Agenda beherrschten, waren wir bestürzt über Landtagswahlen, bei denen viele der Jüngsten die AfD wählten. Jetzt sind wir verwundert darüber, dass parallel zu einer Umwelt-Jugendbewegung der Jugend der Klimaschutz besonders wichtig geworden ist. Wir kennen das doch schon. War es beim Irakkrieg nicht genauso? Nur was selbst besprochen wird, wird relevant.
Es ist ein Trugschluss zu glauben, eine SPD mit Klimaschutzprogramm wäre mehr Klimapartei als die Grünen. Es ist gleichsam ein Trugschluss zu glauben, die SPD könnte sich beim Klima einen blinden Fleck erlauben.
Ein neues Themenpapier wird am Misserfolg der SPD nichts ändern. Weil man nicht einfach ein Thema statuieren kann, ohne es zu leben. Weil es nicht glaubwürdig ist, wenn die SPD Würstchen verteilt und gleichzeitig von der Klimarettung spricht.
Einfache Wahrheit 2: Der Grüne Erfolg ist kein Zufall.
Die Grünen haben bei der letzten Bundestagswahl ihre Wahlziele verfehlt. Das Ergebnis war nicht besonders gut, die gewünschte Regierungsbeteiligung scheiterte. Für viele ihrer ehemaligen Führungskräfte bedeutete es das politische Aus. Trittin, Künast, Roth und Özdemir werden keine Minister mehr.
Die Grünen hatten einen Plan dafür, wie sie eine starke Regierungspartei sein wollen. Als sie es nicht wurden, haben sie einen Plan entwickelt, wie sie eine stärkere Oppositionspartei sein können. Dieser Plan ist nicht schwer zu durchschauen: Er basiert auf Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten. Die Grünen wählten zwei gut aussehende Politiker an ihre Spitze. Das ist eine Äußerlichkeit, aber sie wirkt. Die Grünen wählten zwei eloquente Politiker an ihre Spitze. Das sagt nichts aus über Substanz, aber es hilft, sich zu kommunizieren. Die Grünen wählten zwei sich inhaltlich nahe Politiker an die Spitze und ermöglichten so nach Jahren des Fundi-Realo-Proporzes erstmalig eine eindeutige Position ihrer Spitze statt der immer gleichen Mehrdeutigkeit. Die Grünen wählten an ihre Spitze zwei äußerlich jüngere Politiker, denen man auf den ersten Blick zugestehen kann, dass sie noch ein paar Jahre Zeit haben, bis der Erfolg sich einstellt.
Auch kommunikativ lässt sich beschreiben, was die Grünen heute anders machen als in der Vergangenheit. Sie haben sich vom Konkreten ins Ungefähre bewegt. Sie sagen kaum mehr wofür sie einstehen, sondern sprechen nur noch darüber, wo sie hinwollen. Sie sprechen über das Warum ihres Tuns und nicht länger über das Wie, weil traditionell das Wie der Grünen breite Wählerschichten verschreckt.
Auf dramatische Weise ist der Erfolg der Grünen das Ergebnis einer Strategie, die in genau die andere Richtung weist als all die Strategien der SPD.
Einfache Wahrheit 3: Die Agenda bestimmen.
Seit Jahren nun erleben wir schon, dass es nicht die Themen sind, die den Erfolg von Parteien ausmachen, nicht ihre Kompetenzen oder ihr fachliches Vermögen, zu regieren. Der Erfolg von Parteien wird bestimmt durch ihren Erfolg beim Setzen der Agenda oder durch die Zufälle, die für sie die Agenda bestimmen.
Die AfD war die große Profiteurin vieler Geflüchteter, die nach Deutschland kamen. Sie nahm den externen Anlass und münzte ihn in forderungsarme, aber starke Polarisierung um. Ausgelöst hat sie den Flüchtlingsstrom nicht.
Die Grünen sind die großen Profiteure der neuen Klimabewegung. Sie münzten den externen Anlass in forderungsarme, aber starke Polarisierung um. Selbst gestartet haben sie die neue Klimabewegung nicht.
Die Agenda zu bestimmen, wird von Wahl zu Wahl wichtiger. Die Verschiebungen zwischen den Lagern und Parteien werden immer größer und sie orientieren sich stets am Jetzt. Wer jetzt gerade besprochen wird, der hat Erfolg. Daher ist das entscheidende Kunststück im Wahlkampf schon längst geworden, wie man selbst zum Gesprächsthema wird statt der Frage, wie genau der eigene Programmentwurf aussieht.
Einfache Wahrheit 4: Taktische Manöver schaden immer.
Die FPD hatte bei der Europawahl keinen Erfolg. Die SPD erlebte ein Desaster. Beide sind sie genau die Parteien, die in den vergangenen Jahren als einzige gezeigt haben, dass sie es schaffen, ohne externen Anlass die Agenda zu bestimmen.
Die FDP hat durch strategische Planung das Thema der Fortschrittseuphorie in der Landtagswahl NRW und in der Bundestagswahl selbst auf die Agenda gesetzt. Sie hat sich Form und Farbe und Personal gegeben, das dieses Thema befeuern konnte. Sie war kreativ, überraschend und agil. Als sie auf der politischen Bühne versagte, war das Spiel für sie wieder aus.
Die SPD hat durch unstrategische Planung Martin Schulz als Überraschung präsentiert. Eine Überraschung, die für die Bevölkerung genau so groß war, wie für die Partei. Sie bestimmte damit kurzzeitig durch Form und Farbe und Personal die Agenda. Sie war kreativ, überraschend und agil. Als sie auf der politischen Bühne versagte, war das Spiel für sie wieder aus.
Das politische Versagen von FDP und SPD im Jahr 2017 hat unterschiedliche Anlässe, aber es ist in der Mechanik gleich. Die Schulz-SPD scheiterte genau wie die Lindner-FDP an taktischen Spielchen. Der taktische Sieg an einem einzelnen Tag wird zunehmend häufiger zur langfristig strategischen Niederlage. Der Grund dafür ist einfach: Taktische Siege weichen von Prinzipien ab. Sie folgen nicht der langen Strategie, sondern fragen nur, was jetzt gerade gehen kann. Das Maaßen-Desaster ist wohl unter all den Beispielen das Beste für Taktieren statt Strategie.
Einfache Wahrheit 5: Multipolare Systeme fordern Polarisierung.
Die Politikwissenschaft weiß schon lange, was in den Volksparteien niemand wahrhaben will. In einem multipolaren Parlament muss man sich grundsätzlich anders verhalten als in einem bipolaren. Wenn es nur zwei große Parteien gibt, müssen sich beide in die Mitte bewegen, um zu versuchen, jeweils dem anderen Stimmen abzuringen. In einem multipolaren politischen System mit mehreren starken Parteien zählt die Polarisierung und die Unterscheidbarkeit der Position.
Der vorweggenommene Kompromiss – sprich der bereits in die eigene Positionierung eingearbeitete Kompromiss bevor überhaupt verhandelt wird – ist das Modell eines bipolaren politischen Systems. Dieses System existiert nicht mehr. CDU und SPD verhalten sich so, als hätten sie auf einem heutigen Macbook-Pro Windows 95 installiert.
Man muss sich eindeutig und polarisiert positionieren, um Mehrheiten zu erlangen, um dann Kompromisse verhandeln zu können. Das ständige Sowohl-als-auch war lange richtig, aber ist es jetzt nicht mehr. Deshalb ist es erforderlich, dass die SPD aufhört, in sich schon Kompromisse zu suchen, sondern sich endlich entscheidet, wo sie steht: Klar für den Diesel oder klar für das Ende des Diesels. Klar für Wölfe in Deutschland oder klar dagegen. Der Kompromiss am Ende kommt im Regieren doch sowieso.
Dass die Wählerinnen und Wähler sagen, sie wissen nicht, wofür die SPD noch steht, das hat damit zu tun, dass die SPD zu vernunftgesteuert Programme produziert. Sie liefert der Bevölkerung mittige, austarierte Positionen in einem System, das so unüberschaubar geworden ist, dass die Bevölkerung klare Polarisierungen braucht, um sich überhaupt orientieren zu können.