Die Sozialdemokratie und ihr kritisches Bewusstsein
Die SPD auf Bundesebene hat angekündigt, ihre von Willy Brandt geschaffene historische Kommission abzuschaffen. Die Friedrich-Ebert Stiftung erklärte sich wenige Tage später bereit, diese in Zukunft zu beherbergen. Seither wehren sich Mitglieder und Unterstützer*innen der historischen Kommission gegen diese Verlagerung. Eine Debatte mit teils verbissenen Zügen, die um den Kern eines Problems tänzelt, ohne ihn zu treffen. Weiterlesen »
Wenn man die Debatte um die historische Kommission betrachtet, dann zeigt diese groteske Züge. Eine Kommission, von der viele aktive Mitglieder vor ihrer Abschaffung noch nie gehört hatten, kämpft um das Überleben. Auf den ersten Blick ist sie ein Musterbeispiel des Strukturkonservativismus in Großorganisationen, der diese so oft lähmt. Tritt man allerdings einen großen Schritt zurück und versucht das Kernproblem hinter der konkreten Frage der historischen Kommission zu verstehen, dann kann man durchaus lernen, wo die Sozialdemokratie einen blinden Fleck hat und wie man diesen ausgleichen könnte. Denn diejenigen, die die historische Kommission verteidigen, fordern ein, was diese mal war und nicht, was sie schon lange ist.
Die SPD ist als sozialistische Partei immer einem größeren Ziel verpflichtet als der erfolgreichen sozialdemokratischen Verwaltung und Steuerung des Gemeinwesens. Sie muss mehr wollen als das Fortschreiben des Status Quo, um Erfolge zu erzielen. An dieser Fähigkeit mangelt es der Sozialdemokratie in Deutschland und auch in ganz Europa allerdings gewaltig. Die SPD wandelte sich über nunmehr 30 Jahre hinweg zunehmend von der Kritikerin des Systems, die dieses gleichzeitig im Alltag mit organisierte, zu einer hochprofessionellen und maximal effektiv steuernden, aber nichtmehr kritisierenden Regierungspartei. Im Zuge dieser Veränderung bewies die SPD immer wieder, wie solide sie in der Lage ist, umfassende Gesetzesvorhaben zu planen und durchzusetzen. Allerdings erzielte sie trotz ihrer beständigen Effizienzsteigerung in der Regierungsarbeit fortlaufend schlechtere Ergebnisse. Zuletzt musste sie 2017 erfahren, dass sie nach einer Rekord-Legislatur der herausragenden sozialen Errungenschaften erneut ihr historisch schlechtestes Ergebnis einfuhr.
Was der SPD fehlt ist eben nicht die Effizient im politischen Regierungsalltag. Ihr fehlt ihre Fähigkeit zum kritischen Diskurs. Längst werden Systemprobleme auch in der SPD konservativ gelöst. Das beste Beispiel ist die Abschaffung der Kita-Gebühren, die die SPD nach und nach in zunehmend mehr Bundesländern durchsetzt. Diese stellt eine konkrete Reaktion auf die grassierende Kinder- und Familienarmut dar, folgt aber eben der Logik der Entlastung innerhalb der bestehenden Systembedingungen, ohne die eigentlichen Bedingungsfaktoren der Kinderarmut in unserer Gesellschaftsordnung zu analysieren. Man meint das Problem zu lösen, indem man die Betreuungskosten senkt und hilft damit konkret vielen hunderttausend Kindern und Eltern ernsthaft weiter, aber man operiert eben auch mit dieser Methode nur unter den Bedingungen einer strukturellen Schlechterstellung von Kindern im kapitalistischen System.
Die Sozialdemokratie und ihr kritisches Bewusstsein
Sozialdemokratische Politik war immer dann wegweisend, wenn sie sozialdemokratisch alltäglich konkret helfend handelte und gleichzeitig weitsichtig sozialistisch das System kritisch verstehend veränderte. Wichtige Beispiele hierfür sind die Abschaffung der Kinderarbeit und die Durchsetzung der Schulpflicht oder die Entwicklung des in der Praxis überaus erfolgreichen, aber aus rein kapitalistischer Sicht völlig absurden Betriebsverfassungsgesetzes. Gleiches gilt für die neue Ostpolitik, die sich frei machte von den bestehenden Systemgedanken von Ostblock versus Westblock und die schweren Blockaden, die diese Logik mit sich brachte, erst korrekt erkannte und dann produktiv auflöste.
Was die SPD zu all diesen bahnbrechenden Vorhaben befähigte, war, dass die Partei Foren, Orte, Kommissionen, Arbeitskreise, Ideenschmieden, Gesprächszirkel und viele andere Formen hatte, in denen Systemkritik betrieben werden konnte. Auch die historische Kommission zählt zu diesen Institutionen. All diese sozialistischen Diskursorte in der Partei sind im Lauf der Zeit zum Erliegen gekommen. Eine strukturierte, kluge, tiefgreifende Systemkritik findet nicht mehr statt. Es gibt keinen Ort für Kapitalismuskritik oder für eine fundamentale Kritik an der Weltordnung mehr.
Weil die Orte der Systemkritik in der Partei an Bedeutung verloren haben, entwickelten sie sich nicht weiter. Sie wurden allesamt so überflüssig wie die heutige historische Kommission. Überbleibsel einer Zeit, zu der die Systemkritik noch ihren Platz in der SPD hatte, die sich als Strukturen konservierten, aber ihre Funktion nicht mehr erfüllen.
Aufschlag für ein neues kritisches Bewusstsein
Heute, 2018 ist die Systemkritik wieder notwendig geworden. Es gilt eben nicht das alte System gegenüber rechtspopulistischen Strömungen zu verteidigen, sondern für eine sozialistische Partei wie die SPD gilt es gleichzeitig ordentlich zu regieren und parallel die neue Ordnung kritisch in ihre Faktoren zu zerlegen, um zu verstehen, an welchen Stellschrauben des Systems man Veränderungen vornehmen muss, so dass linke Politik auch morgen noch funktioniert.
Hierfür reicht es nicht, wenn ein paar Jusos und der eine oder die andere in den Ortsvereinen solche Fragen noch diskutiert, während der Rest der Partei die Augen verdreht. Es braucht wieder zeitgemäße Institutionen des kritischen Diskurses unter Einbezug der schlausten Köpfe unserer Zeit, die gleichsam die Fähigkeit besitzen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs eine Rolle zu spielen.
Was sich seit den 1980ern verändert hat, ist nicht nur das globale politische System, es hat sich nicht nur der Kapitalismus gewandelt, es wandelte sich auch das gesellschaftliche Gespräch und die Medien, in denen dies stattfindet. Während 1980 ein Spitzenpolitiker der SPD noch ganze Gedanken im Fernsehen vortragen konnte, hat heutzutage nur noch die Kanzlerin das Privileg einen ganzen Satz zu formulieren, ohne dass ein anderer Talkshow-Gast oder die Moderation dazwischen grätscht. Leider nutzt die Kanzlerin dieses Privileg stets nur für Plattitüden.
Während 1980 der Streit an den Unis noch prägend für die Gesellschaftsdebatten war, so ist es heute längst der Streit in Sozialen Netzwerken. Die neue Form der Systemkritik der SPD muss also beides leisten. Sie muss wirklich kritischen Tiefgang in der Analyse der Systembedingungen herstellen, als auch sicherstellen, dass die Ergebnisse dieser Analyse an die heutigen Diskursorte getragen werden.
Wissen und Wort
Ich glaube, die neue Form der Gesellschaftskritik muss zwei Techniken miteinander verbinden, statt sie gegeneinander auszuspielen. Sie muss den wissenschaftlich-kritischen Diskurs mit der Vermarktung und Vermittlung von Anfang an zusammen denken. Wir brauchen gemeinsame Foren von Denkern und Verbreitern. Wir brauchen keine historischen Kommissionen mehr, die unter sich tagen und deren vielleicht bedeutsame Ergebnisse keine Reichweite im gesellschaftlichen Diskurs erzielen. Wir müssen die kritisch-denkende Systemkritik mit den Mitteln der Massenkommunikation ausstatten.
Die neue sozialistisch-kritische Institution der Sozialdemokratie muss das Wissen und das Wort zusammenbringen. Das Wissen um die Wirtschaftsordnung, das Wissen um die Gesellschaftsordnung, das Wissen um die globale Ordnung, das Wissen um die historisch-kritische Einordnung und gleichzeitig die gewaltige Wortgewalt starker Meinungsbildner*innen. Nichts weniger als ein populärwissenschaftliches Format mit Substanz und systemkritischer Relevanz.
Ganz konkret: Statt stundenlanger Kommissionssitzungen sollten kritische Denker und Vermarkter in der SPD zusammengebracht werden. Sie sollten die Zeit und das Budget bekommen, zuerst tiefgreifende Analysen der Systemprobleme und ihrer möglichen Lösungen zu erstellen, um diese dann sofort in wuchtig formulierte Kommunikation zu übersetzen. Das Ganze eng angedockt an den Parteivorstand, der so sehr danach lechzt, dass das Programm der SPD in Zukunft anders, spannender, bahnbrechender klingt als in den vergangen Jahren. Das geht nur mit harter Systemkritik und donnernder Kommunikation.
Wem der Gedanke gefällt, darf ihn gerne teilen. Ich freue mich auf die kritische Diskussion darüber.
Am 01. Oktober 2018 erscheint das neue Buch von Erik Flügge „Deutschland, Du bist mir fremd geworden. Das Land verändert sich und wir uns mit?“
Ein kritische Gesellschaftsportrait über den inneren Zustand der Republik und die Chancen eines neuen Miteinanders in Deutschland.