Wahrheit und Wirklichkeit
Es gibt Dinge, die sind schlicht wahr: Politiker verdienen keine Unsummen. Sie verdienen nicht schlecht, aber auch nicht übermäßig gut. Aber immerhin besser als der Durchschnitt der Bevölkerung. Ebenso wahr ist es, dass die Grundsicherung in Deutschland Arbeitslosengeld 2 (ALG II) und nicht Hartz4 heißt, die Praxisgebühr von der Union über den Bundesrat erzwungen wurde und Peer Steinbrück einen wesentlich menschlicheren Umgang mit Mitarbeitern pflegt, als die Kanzlerin. All das ist wahr, ist aber nicht Wirklichkeit.
Und genau im Spannungsfeld von Wahrheit und Wirklichkeit liegt der Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft. Während an Universitäten – im Idealfall – auf der Basis logischer Argumente und Fakten die besten Lösungen für gesellschaftliche oder naturwissenschaftliche Probleme gesucht werden, muss man in der Politik stets mit bedenken, was seine eigene Wirklichkeit besitzt.
Da mag so manches falsche Gerücht, mach verkürzte Vorstellung, manch grobes Missverstehen in der öffentlichen Meinung vorherrschen. Damit kann man nur auf eine Weise erfolgreich umgehen: Indem man diese Wirklichkeit anerkennt. Dies bedeutet nicht zwangsläufig eine Kapitulation vor dem falschen Fakt, aber eine de facto Auseinandersetzung mit dem was für viele Menschen eine aktuelle Wahrheit darstellt.
Was die Menschen in den Zeitungen lesen, was sie im Radio hören oder im Fernsehen sehen ist zumindest für das jeweilige Jetzt die situative Wahrheit – oder schlicht Wirklichkeit – der es sich zu stellen gilt. Und auf Basis dieser Wirklichkeit können eben politische Strategien entwickelt werden. Diese reichen dann von der Befeuerung einer Wirklichkeit, weil sie der eigenen Sache dienlich ist, bis hin zur Strategie ein Thema aus der Öffentlichkeit durch einen neuen Skandal zu drängen.
All das ist nur begrenzt planbar, aber zu einem guten Teil kalkulierbar. Wenn nun also die aktuelle Wirklichkeit des Peer Steinbrück ist, dass er als arrogant empfunden wird, obwohl er herzlich ist und als einer, der nur an seinen eigenen monetären Vorteil denkt, obwohl er sich stets ans Gesetz gehalten hat. Wenn seine Wirklichkeit die eines gierigen Politikers ist, dann kann er – unabhängig von der Wahrheit und unabhängig von den besten Argumenten – nicht über Politikerentlohnung sprechen.
Aufgabe der richtigen Berater, der klugen Strategen und des wohlwollenden Umfeldes ist es demnach nicht nur selbst eine Agenda setzen zu wollen, sondern auch Wirklichkeiten zu erfassen und ausgehend von den Wirklichkeiten, die just gerade existieren, das eigene Sprechen zu kontrollieren und zu justieren.
Diese Berater fehlen dem SPD-Kanzlerkandidaten offenbar.